Klima und Gesundheit Fleisch und Zucker: Politische Maßnahmen sind gut, Siegel eher nicht so
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30. Juni 2023, 10:49 Uhr
Fleisch, Zucker, Pipapapo: Eine für Erde und Mensch verantwortungsvolle Ernährung sollte nicht auf Verbraucherinnen und Verbraucher abgewälzt werden. Zu der Erkenntnis kommt ein internationales Team aus Fachleuten und rät der EU-Politik zum aktiven Eingreifen – durch Steuern zum Beispiel, aber auch Ge- und Verbote. So hart das klingt: Für Konsumentinnen und Konsumenten könnte das für einen entspannteren Wocheneinkauf sorgen.
Bei Selbstjustiz im Zuge der Klimakrise gehen die Auffassungen bekannterweise auseinander. Das ist nicht nur hinsichtlich Protestgruppen wie der Letzten Generation der Fall, sondern reicht bis zu der Frage, wie viel Verantwortung jeder Mensch übernehmen soll und muss. Wir wissen bereits: Verantwortung im Kleinen für das große Ganze ist eine Frage der Mentalität. Aber auch eine der politischen Weichenstellung.
Und manchmal ist sie so ein Zwischending. Erst vor Kurzem hat der Bundestag die staatliche Tierwohlkennzeichnung auf Fleischprodukten (Schwein gehabt, erstmal gilt es nur für ebendiese 🐷) beschlossen, die Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (B90/Grüne) in den Ring geworfen hatte. Bereits im vergangenen Jahr waren dazu kontroverse Meinungen wahrzunehmen – von einem Label, das ästhetische Maßstäbe im größtmöglich negativen Sinne setzt bis zu einem, das die Tierschutzorganisation Peta des Greenwashings bezichtigt. Im Gegensatz zum bereits von vielen Supermarkt- und Discount-Ketten eingesetzten freiwilligen Siegel für Haltungsformen (das allerdings ohne separate Bio-Einordnung auskommen muss), handelt es sich um eine verpflichtende gesetzliche Kennzeichnung. Die allerdings zum Ziel hat, Konsumentinnen und Konsumenten in ihrer Entscheidungsfindung beim Wocheneinkauf zu unterstützen.
Eine Beratungsgruppe aus internationalen Fachleuten, die im Auftrag der EU-Kommission seit September den Forschungsstand zum Thema Ernährungspolitik aufgearbeitet hat, äußert jetzt so ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit. "Schaut man sich Studien zur Wirksamkeit von freiwilliger Kennzeichnung von Nahrungsmitteln an, also die vielen unterschiedlichen Label der europäischen Nahrungsmittelindustrie, dann stellt man fest, dass sie die Kaufentscheidung nur wenig beeinflussen“, erklärt Linus Mattauch, Juniorprofessor für die nachhaltige Nutzung von natürlichen Ressourcen an der TU Berlin. "In Umfragen stimmt ein sehr großer Teil der Menschen der Forderung nach besseren Haltungsbedingungen für Nutztiere zu. Trotzdem kaufen wir nur zu einem geringen Anteil Fleisch aus guten Haltungsbedingungen."
Da ist was dran. Ein auf Kundschafts-Feedback spezialisierter Dienstleister veröffentlichte im September 2021 Umfrageergebnisse, wonach sich mehr als vierzig Prozent der Befragten weniger Produkte aus der Massentierhaltung wünschen würden. Es war die häufigste Antwort auf die Frage, was man sich wohl vom Fleischangebot erwartet. Eine bessere Kennzeichnung der Haltungsform ersehnt sich im Übrigen ein Drittel, mehr (!) Bioprodukte 23 Prozent. Der Fleischmarkt spricht eine andere Sprache: Haltungsform 1 – das bedeutet Stallhaltung – dominierte bei den Eigenmarken noch im Jahr 2020 mit siebzig Prozent, 2021 war es Haltungsform 2 (kleines bissl mehr Platz bei der Stallhaltung) mit über der Hälfte. Die Frage ist, welchen langjährigen Trend die noch jungen Siegel auslösen oder zumindest begleiten werden. Gerade eben klingt die Kennzeichnung des Tierwohls zumindest noch nach einem meritorischen Gut – sprich: viele wollen es haben, wenige handeln danach.
Was sind das für Fachleute? Die Beratungsgruppe für die EU-Kommission hat der europäische Zusammenschluss von Akademienetzwerken SAPEA besetzt. In diesen Netzwerken sind herausragende Forschende aus Natur-, Ingenieur- und Technikwissenschaften, Medizin, Gesundheits-, Agrar- und Sozialwissenschaften sowie den Geisteswissenschaften vertreten. SAPEA stützt sich auf über hundert Akademien, junge Akademien und Gelehrtengesellschaften in mehr als vierzig Ländern in ganz Europa.
Durch Steuern steuern – und Geringverdienende entlasten
Die Hürden für eine Wende im Ernährungssystem seien vielschichtig und komplex, so Linus Mattauch. "Und darauf sollte die europäische Politik endlich mit geeigneten Maßnahmen reagieren." Mit seinen Kolleginnen und Kollegen vom Fach gibt er den Entscheiderinnen und Entscheidern jetzt einen Report als Werkzeug an die Hand. Und dort steht zum Beispiel: Besser als (insbesondere freiwillige) Kennzeichnungen sind indirekte Wege der Konsumsteuerung. Etwa eine Steuer auf Fleisch, wie sie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht und die Mattauch als positives Beispiel hervorhebt. "Es geht hier nicht um die Bevormundung von Verbraucherinnen und Verbrauchern oder ein Verbot des Fleischessens", das möchte der Experte klarstellen. Und tatsächlich wäre die Abgabe überschaubar. Mattauch: "Die Höhe der Abgabe könnte in Deutschland vierzig Cent pro Kilo betragen, das dafür notwendige Gesetz wurde aber noch nicht beschlossen." Diese vierzig Cent könnten dann aber in den artgerechten Umbau von Ställen fließen.
Über die geringere Nachfrage würde erst der notwendige Druck auf die Industrie aufgebaut, die Zusammensetzung ihrer Produkte zu ändern.
Unterm Strich geht es aber auch um einen artgerechten Umgang der Menschen mit sich selbst: Der hohe Konsum von Fleisch und Wurst führt erwiesenermaßen zu gesundheitlichen Problemen, Nitritbelastung im Grundwasser, hohem Methanausstoß und Abholzung von Wäldern im globalen Süden, Stichwort: Treiber im Klimawandel. Die Steuer hätte aber nicht nur das Zeug, bessere Ställe für weniger Nutztiere zu bauen. Gesunde und nachhaltige Produkte könnten günstiger werden und Menschen mit geringerem Einkommen entlasten.
Mit Sicherheit wird das Raunen im Lande beim Sichanbahnen einer Fleischsteuer kein leises sein. Dabei ist die Idee der Besteuerung eher ungünstiger Lebens- und Genussmittel freilich kein alleindeutscher Ansatz (Tabak, Alkohol!). "Beim Schwellenland Mexiko hat der hohe Konsum von zuckerhaltigen Limonaden und die dadurch grassierende Verbreitung von Diabetes und Adipositas das Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazitäten gebracht", erklärt Linus Mattauch. "In Großbritannien waren es einfach kluge wirtschaftliche Überlegungen, wie die Reduktion von Zuckergehalten in Lebensmitteln, die Einsparungen beim nationalen Gesundheitsdienst NHS ermöglichen könnte." Der Effekt ist so plausibel, dass es sogar schon eine Faustformel gibt: Zwanzig pro zwanzig. Eine Verteuerung eines stark zuckerhaltigen Produkts um zwanzig Prozent hätte einen Nachfragerückgang von zwanzig Prozent zur Folge. Mattauch: "Über die geringere Nachfrage würde erst der notwendige Druck auf die Industrie aufgebaut, die Zusammensetzung ihrer Produkte zu ändern."
An die Ursachen gehen!
Genauso wichtig wie eine symptomatische Bekämpfung sei es aber, die Ursachen nicht aus dem Blick zu verlieren: Das, was Konsumentinnen und Konsumenten sowie ihr soziales Umfeld prägt. Das ebenfalls von Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Özdemir geplante Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel mit Kindern als Zielgruppe geht in eine solche Richtung, musste aber auch Kritik einstecken und wurde zuletzt etwas angepasst. Auch das ist keine deutsche Erfindung: In vielen europäischen Himmelsrichtungen – Großbritannien, Irland, Schweden, Polen und Portugal – gibt es eine solche Regel bereits. Umsicht bei Plakaten und Werbefernsehen ist aber nur ein Teil der Lösung, Es müsse auch in Schulen und Kindergärten, Restaurants und Kantinen verstärkt gesundes und aus nachhaltigen Quellen stammendes Essen angeboten werden.
Man könnte es auch Prävention nennen: Ziel muss es also offenbar sein, schon eine gewisse Vorarbeit zu leisten, noch bevor Menschen überhaupt erst in die Lage kommen, sich entscheiden zu müssen. Und die Entscheidung sollte folglich eine leichte werden, bei der gesunde und nachhaltige Produkte gelernt attraktiver sind als Schokolade und argentinisches Entrecôte – und gleichzeitig die günstigere, sozial verträglichere Wahl. Gleichzeitig würde es den Wocheneinkauf merklich entspannen, wenn das gesunde Gleichgewicht im Einkaufskörbchen schon ein bisschen politisch vorsortiert sein würde. Da ist es dann auch egal, dass das Tierwohllabel optisch an die Anfangstage der computergestützten Textverarbeitung erinnert.
Links/Studien
Der Report Towards sustainable food consumption (28. Juni 2023) ist hier abrufbar.
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