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Wissen, was wir lesen Alles wird Zahl. Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand
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25. Juni 2021, 17:13 Uhr
Kann Mathematik auch denen Spaß machen, die bisher einen großen Bogen um sie gemacht haben? Ja, das geht. Wenn die Vermittlung über den Tellerrand der eigenen Wissenschaft hinausblickt. Carsten Dufner, MDR WISSEN-Redakteur mit einem Faible für gute Didaktik, empfiehlt ein Buch, das sich diesem scheinbar so schwierigen Thema ganzheitlich nähert. Wissenschaft trifft auf Kunst.
Worum geht es?
Die Renaissance, die "Wiedergeburt", war wie ein Frühling für die Wissenschaften – eine Zeit, in der alles an die Oberfläche drängte, sich einen Weg bahnte zu den Menschen in Europa. Kartographie, Reformation, Buchdruck, heliozentrisches Weltbild. Und eben auch die Mathematik, in der Antike mit Arithmetik und Geometrie zu den "artes liberales" gezählt, den "freien Künsten", gleichwertig mit der Musik und der Astronomie. Kaum zu glauben, dass die Menschen bis dahin noch in den sehr einfachen römischen Zahlen gefangen waren, die im Prinzip nichts Anderes sind als die Abbildung des Zählvorgangs, des Ritzens von Strichen in Holzstücke.
Dann plötzlich der Aufbruch: Einblicke in die faszinierende Ziffernwelt und Logik der indisch-arabischen Rechenkunst, verknüpft mit den Errungenschaften der griechischen Geometrie.
Und so war es in einem relativ kurzen Zeitraum möglich, nicht nur zu multiplizieren und zu dividieren (wie geht MCDL durch IX?), sondern auch zu konstruieren, zu potenzieren – sogar Kunst mit mathematischer Grundlage zu schaffen (z.B. die Zentralperspektive). "Alles wird Zahl" taucht in diese Zeit ein, gibt ein Gefühl von den Zusammenhängen, von den vielen Teilbereichen von Leben, Wissenschaft und Kunst, in denen mathematische Phänomene eine zentrale Rolle spielten. Und bis heute spielen.
Wie schafft es das Buch, mich zu fesseln?
Wir alle, ob wir nun neun sind oder neunzig, haben die Mathematik in der Schule wahrscheinlich ähnlich erlebt: Als separierte Wissenschaft mit eigenen, oft auch eigenwilligen Fragestellungen, manchmal ohne einen Blick nach links oder rechts und ohne praktischen Bezug. Wer erinnert sich nicht an "Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck…"? Und an die eigene Frage, wer einem denn das gegeben hat und warum? Entweder wir lieben das oder wir hassen es. Dazwischen gibt es (leider!) scheinbar wenig Grautöne.
Das Buch macht es besser. Es lebt die Aufbruchsstimmung der Renaissance, zeigt die vielen Einflüsse von der Mathematik und auf sie, baut Brücken zur Architektur, zum Buchdruck, zur Wirtschaft, zur Astronomie. "Alles wird Zahl" heißt der Titel, und das ist nicht übertrieben. Man könnte auch sagen: Mathe ist überall. Auch da, wo’s überhaupt nicht weh tut!
Und da große Künstler wie Leonardo oder Dürer am Ende ihres Lebens immer mehr zu Wissenschaftlern wurden, kommt umgekehrt auch die Malerei hier mehr zur Sprache, als man das auf den ersten Blick erwarteten würde (eine Disziplin übrigens, die vor Leonardo spannenderweise nicht zu den "freien Künsten" zählte, sondern, auch wenn sie offiziell nicht dazu gehörte, eher als "ars mechanica", als "mechanische Kunst" auf einer Stufe mit Landwirtschaft, Bauhandwerk und der Jagd stand). Und genau diese Mischung fesselt, macht Lust auf Zahlen und Körper, neugierig auch auf viele Phänomene, an deren Namen man sich vielleicht noch aus Schulzeiten erinnert, an die Inhalte möglicherweise nicht. Ich sage nur: Trigonometrie, komplexe Zahlen. Ein tolles Beispiel, wie Mathematik auch funktionieren kann.
Wer hat's geschrieben?
Ein Wissenschaftsjournalist, der in der Themenwahl seiner Bücher ähnlich gut aufgestellt ist wie die Universalisten der Renaissance. Thomas de Padova, Jahrgang 1965, lange Zeit als Printkollege tätig, hat sich mit "Leibniz, Newton und der Erfindung der Zeit" ebenso beschäftigt wie mit der "Schwerkraft bei Einstein". Er schafft es, Beziehungen zwischen dem Alltag der Leser:innen und der Wissenschaft aufzubauen, also genau das, was guten Wissenschaftsjournalismus ausmacht.
Was ihn am Thema seines neuesten Buches fasziniert, erklärt er folgendermaßen: "Ähnlich wie die Poesie ist die Mathematik dazu imstande, die Wirklichkeit in verdichteter Form abzubilden. Das macht sie seit jeher zu einer besonderen Inspirationsquelle des menschlichen Denkens."
Wie ist es geschrieben?
Mathematik wird nicht aus der Logik der Disziplin heraus erklärt, sondern anhand der Lebensgeschichte von neugierigen Menschen und ihren Fragestellungen.
Leonardo und Dürer tauchen dort auf, auch Kopernikus und Cardano, Behaim, Regiomontanus, Brunelleschi und Stifel. Und natürlich darf Adam Ries nicht fehlen. Es gibt ganze Seiten völlig ohne mathematische Hintergründe, dafür aber mit viel Zeit- und Geistesgeschichte, die deutlich zeigen, dass bahnbrechende Entdeckungen nicht im luftleeren Raum entstehen.
Nach der Lektüre des Buchs kann ich folgender Aussage von Thomas de Padova nur zustimmen: "Für Alles wird Zahl braucht man kein Schulwissen. Das Buch lädt vor allem dazu ein, die schillernde Epoche einmal mit anderen Augen zu betrachten, zu entdecken, wo Zahlen und Algorithmen ihre Ursprünge haben, wie kaufmännisches und mathematisches Denken seinerzeit ineinandergreifen und wie sich Kunst und Wissenschaft wechselseitig befruchten."
Was bleibt hängen?
Dass Vorbehalte gegen die arabische Welt lange Zeit richtiges Rechnen in Mitteleuropa verhinderten. Dass Kunst bis heute viel mit Mathematik zu tun hat. Dass doppelte Buchführung viel besser klingt, wenn sie als "alla Veneziana" daherkommt. Dass Leonardo schlecht im Rechnen, aber gut in Mathematik war und seine Explosionszeichnungen die Grundlage sind für die heutigen Aufbauanleitungen von Möbeln und komplizierten Konstruktionsbeschreibungen. Und dass Dürer Ellipsen mit dem aus heutiger Sicht eher putzigen Begriff "Eyer lini" bezeichnet hat.
Sehr spannend auch, dass Gutenberg, der mit seinem Buchdruck Revolutionäres geleistet hat, vielen sogar als bedeutendster Erfinder des zweiten Jahrtausends gilt, mit eben diesem Buchdruck nicht so viel einnehmen konnte, dass er seine Gerätschaften hätte bezahlen können. Er ging in Insolvenz und musste die Revolution an einen Investor verkaufen. Hätte er nur besser rechnen gelernt!
Der Rezensent … hat sich die Neugier seiner Kindheit erhalten. Ihn interessieren dabei weniger die Dinge, die weit weg oder weit zurückliegen als eher die wissenschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt. Und das, was unser aller Zukunft ausmacht. Liebt die Vermittlung von Wissen, engagiert sich für die Bildung und betreut als Redakteur auch diese Rubrik: "Wissen, was wir lesen?"
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