Covid-19 - Studien und Zahlen Corona-Statistiken lesen: Der Teufel steckt im Detail
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05. April 2020, 18:37 Uhr
Warum kursieren derzeit verschiedene Ansteckungs- und Mortalitäts-Zahlen für SARS-Cov2, und was bringen soziale Distanzierung oder Shutdown? Anhand einer Studie zeigen wir die versteckten Fallstricke hinter den Zahlen, die medizinische Laien gar nicht auf dem Schirm haben, wenn sie etwa Vergleiche zur Grippe ziehen. Und wir stellen eine Studie aus Japan vor, in der die Wirkung von Absonderungsmaßnahmen berechnet wurde.
Wer sich derzeit wissenschaftliche Studien und Aussagen über Sterblichkeitsraten und Übertragungsraten durch Corona-Cov-2 anschaut, fasst sich bisweilen an die Stirn: Warum kursieren so viele verschiedene Zahlen? Wer weiß schon, was das Abschotten daheim bringt, verhindert die soziale Distanzierung nicht eine schnelle größtmögliche Immunisierung der Bevölkerung? Widerspricht sich die Wissenschaft nicht am laufenden Band?
Nur auf den ersten Blick ist das so, sagt Dr. Thomas Grünewald im Gespräch mit MDR Wissen. Der Trick besteht darin, ganz genau hinzuschauen, mit welchen Zahlen gearbeitet wird. Stichwort Sterblichkeitsraten: Es kommt zum Beispiel darauf an, wie gezählt wird, wer, zu welchem Zeitpunkt, in welchem Zeitraum. Verkürzt gesagt: Sterben in einem Monat viele Menschen an einem Virus, ist die Sterblichkeitsrate zwar in dem Monat hoch - aufs Jahr gerechnet dagegen vielleicht niedrig.
Was scheinbar eindeutige Zahlen alles nicht sagen
So geht es uns derzeit auch mit den Covid-19-Todesraten. Je nachdem, was man miteinander vergleicht und in Beziehung setzt, führt das zu verschieden hohen Zahlen. Und die lassen je nach Punkt der Betrachtung verschiedene Deutungen zu. Manchmal kommen Forscher sogar bei denselben Zahlen zu komplett diametralen Deutungen, sagt Dr. Thomas Grünewald, das sei an sich normal im Wissenschaftsbetrieb. Er verdeutlicht die Problematik verschiedener Blickpunkte an einem praktischen Beispiel:
Wenn Sie in einem Zug sitzen und ein anderer fährt an Ihnen vorbei, wirkt der entgegenkommende viel schneller – obwohl er genauso schnell fährt wie der Zug, in dem Sie selber sind.
Aber was heißt das nun für Covid-Sterbezahlen und Übertragunsraten? Neben dem Blickpunkt spielt der Umgang mit den Statistiken eine wichtige Rolle: Welche Bezugsgrößen werden hinzugezogen? Eine französische Studie, die die Gefahr durch SARS-CoV-2 einzuschätzen versucht, zeigt das gerade sehr anschaulich. Die Forscher kommen zu dem Schluss:
Das SARS-2-Cov Problem wird statistisch gesehen möglicherweise überschätzt angesichts von 2,6 Millionen Menschen die jährlich an Atemwegserkrankungen sterben, verglichen mit den weniger als 4.000 SARS-CoV-2-Toten bis zum 2. März. Gefährlicher als das Virus sei die mögliche Suizidrate durch die Angst vor dem Virus.
Aber welche Zahlen führen zu dieser Einschätzung? Die Forscher verglichen Mortalitätsraten aus dem Zeitraum 1. Januar 2020 bis zum Stichtag 2. März miteinander: 90.307 Patienten waren in dem Zeitrahmen weltweit auf SARS-CoV-2 getestet, 3.086 Tote registriert, Mortalitätsrate 3,4 Prozent. In den OECD-Ländern waren 7.476 Patienten positiv auf SARS-CoV-2 getestet und 96 Tote registriert, OECD-Mortalitätsrate: 1,3 Prozent. In Frankreich waren zum Stichtag 191 Menschen positiv getestet, drei Tote gezählt, Mortalitätsrate 1,6 Prozent. Das klingt nach wenig, auch wenn man sie in Beziehung setzt zur Sterblichkeitsrate anderer Corona-Viren wie SARS, die bei neun Prozent lag oder MERS bei über 30 Prozent. Diese Daten stammen aber nicht aus der Zeit während der Epidemie, sondern erst aus der Zeit danach.
Aktuelle Zahlen zeigen Momentaufnahmen
Hier kommen wir zu einem Knackpunkt, der erklärt, warum so viele Zahlen im Umlauf sind, die Theorien befeuern, dass die Gefahr durch das Virus überschätzt sei:
"Erfassungen während einer Pandemie zeigen immer nur Momentaufnahmen", sagt Grünewald. Erst Metastudien, die die vielen Einzelbefunde nach deren Ende beleuchten, werden helfen, Klarheit über das Ausmaß zu schaffen. In einem halben Jahr oder einem ganzen sind wir weiter, schätzt der Infektiologe. Man könnte also sagen: Was die Wissenschaft derzeit an Daten sammelt und liefert, sind quasi Puzzlesteine, bei denen ein Einzelstück aussehen kann, als wäre es die Pupille eines Auges, beim fertigen Puzzle zeigt sich aber, die vermeintliche Pupille war ein Apfelkern. Und man muss aufpassen, was man miteinander vergleicht, damit es - um im Bild zu bleiben - nicht am Ende Äpfel und Birnen sind, die man in einen Topf wirft.
Was die französische Studie nicht verrät
Was die Zahlen, mit denen das französische Team argumentiert, übrigens auch nicht verraten: Sind die gezählten Menschen mit dem Virus gestorben und waren schon länger an etwas anderem schwer erkrankt? Wie viele von ihnen waren an sich körperlich alters- oder gesundheitsbedingt in instabilem Zustand? Oder starben sie eben tatsächlich am SARS-CoV2-Virus? Selbst dann ist noch unklar, ob der Zugang zu medizinischer Versorgung gegeben war, und wie die Qualität der medizinischen Versorgung an sich. Mit diesen Unwägbarkeiten haben alle Studien in dieser Zeit zu kämpfen.
Wirkung von Shut-down und sozialer Distanzierung
Das gilt auch für die Verbreitungsraten, über die auch viel spekuliert wird angesichts der Nebenwirkungen unangenehmer Maßnahmen: Was bringen die soziale Distanzierung in Deutschland oder der komplette Shutdown wie beispielsweise in Spanien? Japanische Biomathematiker haben aus Daten aus Wuhan und von Bürgern, die von dort zurückgeholt worden waren, das Übertragungspotential der Viren berechnet. Demnach lag im Zeitraum 2019-2020 die Ansteckungsrate bei 5, nach den Interventionen im Gesundheitswesen bei 0,5. Eine spannende Studie, sagt Thomas Grünewald, bei der aus Echtpatienten ein Modell abstrahiert wurde und eine mathematische Bestätigung dafür gefunden, dass man die Sterblichkeit drücken kann, wenn man die Absonderungsmaßnahmen sehr konsequent betreibt.
Der Umgang mit den Zahlen und Daten über die neuartigen Corona-Viren ist genauso ein Lernprozess wie das künftige Leben mit dem Virus an sich. Solange die Pandemie nicht durchgestanden ist, wissen wir also immer nur Bruchstücke und sind erst hinterher schlauer.
Das war bei früheren Seuchen so, und ist es auch heute. Genau wie in Japan, das zwar zum Beispiel in der ersten Februarwoche 2020 mehrere Flieger nach China schickte, um japanische Bürger aus Wuhan zurückzufliegen. Noch knapp zwei Wochen später war man weit davon entfernt, das öffentliche Leben in Japan einzuschränken, am 16. Februar fand der Kumamoto-Marathon mit 12.000 Läufern statt, ein beliebter Lauf-Event, für den sich Marathoni ein Jahr im Voraus anmelden müssen. Erst am 27. Februar beschloss die Regierung die Schulen zu schließen.
Die Folgen einer fehlenden Fall-Definition
Eine weitere Zahlen-Falle liegt in den Statistiken: Virologe Alexander Kekulé erklärt im MDR AKTUELL Podcast, was dahinter steckt, nämlich die Geschichte des Umgangs mit dem neuartigen Corona-Virus:
"Bei den ersten Zahlen aus Wuhan wurden positive Fälle als 'positiv getestet' registriert. Also jeder, der positiv getestet wurde, galt als Fall. Normalerweise macht die WHO in solchen Fällen eine sogenannte Falldefinition, und schreibt fest, was künftig als Fall bei den Zählungen gelten soll."
Und genau die fehlt bis heute (Stand 01.04.2020). Es gibt zwar eine vom Europäischen Zentrum für Krankheitsprävention und -Kontrolle, aber diese Institution hat bei weitem nicht die Wirkmächtigkeit der Weltorganisation der WHO.
Ständig im Wandel: Zahlen, Forschung, Realität
Wie wenig Zahlen derzeit aussagen und wie hart Forschung und Realität bei Corona aufeinandertreffen, zeigt in diesen Tagen ganz besonders Anthony F. Fauci. Der anerkannte US-Immunologe hat am 26. März im renommierten New England Journale of Medicine eine Untersuchung veröffentlicht. Darin schrieben er und zwei Kollegen unter dem Titel "Covid-19 — Navigating the Uncharted" – übersetzt in etwa: Covid-19 - Navigieren auf unerforschtem Gebiet: "Dies deutet darauf hin, dass die klinischen Gesamtfolgen von Covid-19 letztendlich eher denen einer schweren saisonalen Influenza (mit einer Todesrate von etwa 0,1Prozent) oder einer pandemischen Influenza (wie in den Jahren 1957 und 1968) gleichen, als Krankheiten wie SARS oder MERS, bei denen die Sterblichkeitsrate bei 9 bis 10 Prozent bzw. 36 Prozent lag."
Das klingt nach einer gewissen Entwarnung für die neue Corona-Erkrankung Covid-19. Drei Tage nach der Veröffentlichung trat Anthony Fauci in seiner aktuellen Funktion als oberster US-Infektiologe vor die Presse und warnte vor den Folgen der Krankheit: Ausgehend von der aktuellen Lage bestehe die Möglichkeit, dass sich Millionen Amerikaner anstecken und 100.000 bis 200.000 Menschen in Folge der Pandemie sterben.