Corona-Pandemie Trauerstörung: Wenn Trauern krankmacht

19. April 2020, 05:00 Uhr

Mehrere Tausend Menschen sind in Deutschland an oder mit einer Coronavirus-Infektion gestorben. Die Zahlen sind bedrückend genug. Doch Psychologen schlagen mit Blick auf die Hinterbliebenen Alarm. Denn die aktuellen Einschränkungen erschweren das Abschiednehmen und Trauern - und können sogar psychisch krankmachen.

Blumen vor einem Grabstein. 6 min
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Wenn ein geliebter Mensch stirbt, übermannen uns Trauer, Macht- und Hilflosigkeit. Das sind ganz natürliche Reaktionen. Doch in Zeiten des Coronavirus mit Kontaktsperren und Besuchsverbot wird die Situation zu einer besonderen Belastung. Nicht jeder darf ein sterbendes Familienmitglied noch einmal besuchen. Oft kann nur ein einzelner Angehöriger den Sterbenden sehen.

Corona-Situation kann Trauer blockieren

Hawila Middelstaedt ist die leitende Koordinatorin des ambulanten Hospiz- und Beratungsdiensts des Diakoniewerks Westsachsen. Hier finden Angehörige von schwerst erkrankten oder sterbenden Menschen Beratung und Unterstützung. Die aktuelle Situation erschwert Abschied und Trauer: "Diese Situation, wie wir sie heute haben, die einfach nochmal ein ganzes Stück mehr angstbesetzt ist, blockiert oftmals." Das gelte auch für Verarbeitungsmechanismen.

Oder Umgangsformen: Wie kann ich das jetzt für mich annehmen? Wie kann ich aktiv werden und was kann ich einbringen? Demzufolge ist auch die Wahrscheinlichkeit jetzt höher, dass ein Erleben einer Situation zurückbleibt, das es den Angehörigen schwermacht, dann den Weg in die Zukunft zu finden.

Hawila Middelstaedt, Diakoniewerk Westsachsen

Gerade die Angehörigen, die den Sterbenden nicht mehr besuchen konnten, leiden. Im schlimmsten Fall können Hinterbliebene den Tod nicht gänzlich realisieren. Hawila Middelstaedt findet dafür dieses Bild: "Die Situation der Trauer braucht auch ein Gefühl, ein Gefühl von 'ich kann etwas abschließen'. Und wenn so ein Thema nicht abgeschlossen werden kann", sagt Middelstaedt, "dann ist das so wie eine Tür, die so im Wind klappert. Der Raum ist nicht geschlossen." Als würde unterschwellig immer noch die Erwartung bestehen, den Verstorbenen wiederzusehen. So ist es schwer, in die Trauer zu kommen.

Von Schuldgefühlen zur Trauerstörung

Natürlich ist jeder Trauerprozess individuell und unterschiedlich schwer. Auch der kulturelle und soziale Rahmen spielt dabei eine große Rolle. Doch die besonderen aktuellen Umstände können beispielsweise zu Schuldgefühlen bei den Hinterbliebenen führen, sagt die Psychotherapeutin Professorin Astrid Lampe von der medizinischen Universität Innsbruck.

Hätte ich meine Mutter ins Krankenhaus bringen sollen? Hätte ich sie lieber zuhause lassen sollen? Oft gehen die Gedanken im Kreis.

Prof. Dr. Astrid Lampe, Universitätsklinik für Medizinische Psychologie Innsbruck

Werden diese Gedanken quälend und zwanghaft, können sie ein Symptom für eine "anhaltende Trauerstörung" sein. Diese beschreibt Astrid Lampe, die auch Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie ist, so:

Bei der anhaltenden Trauerstörung erleben die Betroffenen ein intensives Gefühl des Verlusts. So als hätte man selbst einen Teil von sich verloren. Es ist eine dauernde Beschäftigung mit dem Tod und mit den Toten, die einen fast am täglichen Leben hindert. Es kommt zu heftigen Schuldgefühlen, Vorwürfen. Ein Hadern mit dem Tod, man zieht sich von den sozialen Aktivitäten zurück.

Prof. Dr. Astrid Lampe, Universitätsklinik für Medizinische Psychologie Innsbruck

Das Krankheitsbild der anhaltenden Trauerstörung ist relativ neu. Gerade erst wurde es in das aktuelle, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für Krankheiten, das ICD-11, aufgenommen. Die Störung ist schwer zu diagnostizieren. Ein Indiz kann sein, dass die Trauer ungewöhnlich intensiv erlebt wird und so mehr als sechs Monate anhält. Außerdem wird dadurch das soziale und berufliche Leben stark eingeschränkt. In manchen Symptomen gleicht es einer Posttraumatischen Belastungsstörung, aber auch einer schweren Depression.

Alternativen zu alten Ritualen finden

Dass der Tod in der aktuellen Krise solche schweren Folgen für die menschliche Psyche haben kann, liegt besonders am Wegfallen von Ritualen. Beerdigungen finden nur im kleinen Kreis statt, Trauerfeiern gar nicht. Das gemeinsame Erinnern und Trauern kommt zu kurz. Menschen bleiben mit ihren Gedanken isoliert.

Die Experten raten, Alternativen zu diesen Ritualen zu finden. Auch Hawila Middelstaedt vom Diakoniewerk Westsachsen hält das für sinnvoll: "Dann kann man versuchen, diese Angst- und Macht- und Mutlosigkeit einfach in eine Handlung zu bringen." Gerade für die Kinder sei es etwa eine Option, dass sie Bilder malen und diese Bilder auch im Krankenhaus abgeben. Partner oder Eltern könnten vielleicht Tagebuch schreiben, empfiehlt Middelstaedt.

Und wenn die Patienten versterben, dann ist dieses Tagebuch oder das Bild, das das Kind gemalt hat, so ein stückweit das, was man mitgeben kann. Und das Abgeben und Behalten das ist ein zentrales Bild, was wir in der Trauerarbeit immer wieder haben. Und gerade dieses Nichtstun, zuhause zu sein und nicht handeln zu können, mit einer Handlung zu füllen, das ist etwas Wichtiges, um durch diese Zeit zu kommen.

Hawila Middelstaedt, Diakoniewerk Westsachsen
Eine Trauerkerze steht auf einem Tisch
Ein Foto der verstorbenen Person kann beim Trauern helfen. Bildrechte: Colourbox.de

Die Angehörigen sollten miteinander reden und sich austauschen. Und dafür sollten auch alle technischen Möglichkeiten genutzt werden, vom Telefonat bis zum Video-Chat. Sogar eine Trauer- oder Gedenkminute könnte so verabredet werden. Psychotherapeutin Lampe und Hospizmitarbeiterin Middelstaedt empfehlen darüber hinaus noch eine ungewöhnliche Maßnahme: Die Verstorbenen sollten fotografiert werden. "Weil das so ein wichtiger Aspekt ist, wenn dann die Fragen so groß werden", sagt Middelstaedt. Das sei wichtig für die Frage: "Ist es überhaupt passiert?", die sich dann manche Betroffene stellten.

Da sind wir wieder bei dem Begreifen, dass da jemand meinen Vater, meine Mutter oder wer es auch ist von meinen Angehörigen, auch sehen kann. Das wirkt zwar befremdlich, tote Menschen zu fotografieren. Aber gerade für diese Zeit ist es auch ein Mittel, um Verstehen zu ermöglichen.

Hawila Middelstaedt, Diakoniewerk Westsachsen

Dabei gibt es keinen Zwang, sich so ein Foto auch anzusehen. Und irgendwann wird die Corona-Krise mit ihren Einschränkungen vorbei sein. Auch dann können nachgeholte Trauer- und Gedenkfeiern im großen Kreis noch helfen, sich gegenseitig zu trösten und zu stützen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. April 2020 | 03:22 Uhr