Coronakrise Lernen vom Marsexperiment: Wie geht man mit sozialer Isolation um?
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23. April 2020, 16:25 Uhr
Christiane Heinicke hat 365 Tage lang sozial isoliert gelebt mit einer kleinen Gruppe, die das Zusammenleben auf einer Mars-Station simuliert hat. Welche Tipps hat sie für die Corona-Krise?
Die Situation jetzt ist im Detail auch für Sie neu. Aber Isolation und Alleinsein kennen Sie ja schon: Sie haben am 365 Tage Mars-Experiment teilgenommen. Was haben Sie dabei erlebt?
Bei dem Experiment ging es darum, dass eine relativ kleine Gruppe von Menschen zusammen über einen längeren Zeitraum miteinander leben und arbeiten muss. Wir waren zu sechst in einem sogenannten Habitat. Das ist eine simulierte Marsstation gewesen. Dort haben wir ein Jahr lang zusammen gelebt und gearbeitet. Wir durften nur nach draußen gehen, wenn wir simulierte Raumanzüge angezogen haben. Und wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren wollten, dann ging es nur per E-Mail und immer mit einer zwanzigminütigen Verzögerung, um die Entfernung zwischen Erde und Mars zu simulieren.
Wenn man in der Situation jetzt lebt, fragt man sich: Warum meldet man sich für so eine Mission freiwillig?
Schlicht und einfach Neugier: Ich wollte wissen, wie tatsächlich eine kleine Gruppe von Menschen - abgeschnitten von der Außenwelt, völlig auf sich allein gestellt - klarkommt. Wie entwickelt sich die Gruppendynamik über diesen langen Zeitraum? Das wollte auch die NASA wissen, die das Experiment finanziert hat.
Wenn sie jetzt Diskussionen verfolgen, nach ein bis zwei Wochen Isolation - können Sie da nur müde lachen?
Jein. Unser großer Vorteil war, dass wir wussten: das Experiment dauert ein Jahr und solange müssen wir durchhalten. Dementsprechend haben wir uns verhalten. Wir haben von Anfang an darauf hingearbeitet, das wir uns gegenseitig tolerieren und wenn Probleme auftreten, dass wir aufeinander zugehen und versuchen, sie zu lösen. Aber es hat auch geholfen, zu wissen: Okay, nach einem Jahr ist das Ganze vorbei.
Sind Sie darauf vorbereitet worden?
Ich glaube, so richtig kann man sich nicht darauf vorbereiten. Klar wurden wir informiert. Es wurde uns gesagt, die psychische Belastung ist extrem hoch. Was das konkret heißt, das konnten wir alle gar nicht so richtig einschätzten. Die ersten zwei Wochen waren so aufregend, eine Ferienlagerstimmung. Erst nach zwei Wochen haben wir gemerkt: Okay, wir sind jetzt wirklich noch elfeinhalb weitere Monate hier.
Gab es ein psychologisches Training?
Ja. Wir hatten Gespräche und Trainings mit Psychologen, wo es darum ging, wie gehen wir mit Konflikten um? Wie gehen wir mit Stress um? Worauf ist besonders zu achten? Wir haben uns als Gruppe zusammengesetzt und verschiedene Probleme vorher besprochen, die auftreten können. In unserem Fall waren das beispielsweise: Was kann dazu führen, dass jemand das Experiment verlassen möchte? Was ist, wenn es jemandem mal richtig schlecht geht, wenn zum Beispiel schlechte Nachrichten von Zuhause gekommen sind? Wir haben gesagt, es ist völlig okay, wenn jemand schlecht drauf ist und sich für einen Tag oder zwei in sein Zimmer zurückziehen und niemanden sehen will. Das ist völlig akzeptiert gewesen. Wichtig ist nur, dass es nicht über Wochen und Monate andauert.
Sie sagen, der große Unterschied zur momentanen Situation ist, dass Sie den Zeitraum genau kannten?
Ja. Andererseits aber war es für uns auch ein bisschen schwieriger, weil wir im Prinzip nicht rausgehen durften. Für draußen mussten wir einen Raumanzug anziehen und da ist man dann trotzdem irgendwie drinnen. In die Sonne setzen und Vögeln zuhören, ging nicht. Das andere ist die Kommunikation. Zwar kann man sich gerade nicht mit jedem treffen oder auf Partys gehen. Aber man kann immerhin noch zum Telefonhörer greifen und beispielsweise die Eltern oder die Großeltern anrufen. Das konnten wir während des Experiments nicht.
Haben Sie beim Experiment Geschichten erlebt, mit denen Sie niemals gerechnet haben? Gibt es Effekte der Isolation, die man am Anfang gar nicht auf dem Schirm hat?
Wir konnten nicht wirklich etwas erwarten. Zwar hieß es, die psychische Belastung ist groß. Aber was genau heißt das? Da gab es etwa einen Kollegen, der immer seine Kaffeetasse stehen lässt. Erst ist das nicht schlimm, aber wenn es hundertmal passiert ist, nervt es. Und da war eben wichtig, dass man das nicht in sich hineinfrisst und irgendwann explodiert und denjenigen anfaucht. Das bringt nur Frust. Sondern man sollte es so früh wie möglich und vor allem so ruhig wie möglich ansprechen.
Wir haben dem Kollegen gesagt: Die Kaffeetasse nervt uns. Und der Kollege hat da richtig reagiert und nicht versucht, es zu rechtfertigen. Sondern: Es war ihm nicht aufgefallen, aber er versucht es zu ändern und hat das dann auch getan. Das ist ein ständiges Geben und Nehmen. Als er irgendwann später nochmal die Kaffeetasse hat rumstehen lassen, haben wir gesagt: Wir haben gesehen, dass du dich deutlich gebessert hast, dieses eine Mal ist Okay.
Geben und Nehmen - in der Theorie klingt das supereinfach. Wenn man aber ständig miteinander zu tun hat, gibt es immer irgendwelche Kleinigkeiten, die einen nerven. Und dann ganz rational zu sagen: Das stört mich, kannst du das ändern, das ist extrem hilfreich. Ich fand spannend, wie gut das funktioniert hat. Wenn mir jemand gesagt hat, dein Stuhl steht im Weg, dann macht das einen Riesenunterschied, ob ich angepflaumt werde oder ob das jemand ganz sachlich sagt, vielleicht sogar noch mit Lösungsvorschlag. Das funktioniert aber auch nicht immer hundertprozentig. Manchmal muss man sich auch erstmal abreagieren. Wir hatten ein Laufband. Und manchmal wusste man: Okay, wenn diese Person jetzt eine Stunde auf dem Laufband steht, ist irgendetwas vorgefallen.
Sport treiben ist extrem hilfreich, um sich einfach abzureagieren. Physisch sowieso, aber auch zum Frust oder Stress abbauen, dafür ist Sport unglaublich gut. Und dann kann man an viele Sachen viel leichter rangehen.
Wir sitzen jetzt alle in unseren Wohnungen auf einem Haufen. Sie sind mit ihrem Partner zuhause. Stichwort Lagerkoller, findet der bei Ihnen statt?
Es gibt Menschen, die mit dieser Situation besser und welche, die damit weniger klarkommen. Wer nicht so viel direkten Kontakt mit anderen braucht, sondern eher auch mal mit sich selbst zufrieden ist, für den ist diese Selbstisolation einfacher, als für Menschen, die viel solchen Kontakt brauchen. In gewöhnlichen Zeiten haben es introvertierte Menschen schwer, mit den großen Menschenmengen klarzukommen. Das ist jetzt vielleicht überspitzt formuliert, aber die sind jetzt im Vorteil, weil ihnen die Situation fast schon entgegenkommt. Ich gehöre offensichtlich eher zu denen, die gut klarkommen, wenn nicht dieser ständige Kontakt mit anderen Menschen da ist. Aber das geht eben nicht jedem so. Alle Tipps, die ich geben könnte, sind deshalb nur für die eine Hälfte der Bevölkerung relevant. Die andere braucht den Kontakt mit anderen Menschen.
Und dann gibt es vielleicht auch Selbstständige, bei denen neben der Isolation dann auch Existenzangst eine Rolle spielt.
Na klar. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich, wie in meinem Fall, von zuhause aus für die Universität arbeite, oder ob mein Einkommen komplett weggebrochen ist und man zuhause hockt und nahezu untätig sein muss. Da ist dann wichtig, dass man sinnvolle Arbeiten findet, die man erledigen kann, insbesondere auch ungeliebte Aufgaben, damit man dann am Ende des Tages voller Stolz zurückschauen kann und sagen kann: Ja, ich habe das geschafft, ich habe das endlich angepackt. Auch, wenn das natürlich das eigentliche Problem nicht löst, aber es lenkt einen ab, statt dass man auf etwas herumkaut, an dem man nichts ändern kann.
Was haben Sie für unangenehme Geschichten schon erledigt, die sie sonst nicht machen?
Ich habe aufgeräumt, neue Pflanzen angepflanzt und ich koche jetzt mehr, als sonst, das ist schon ein Erfolgserlebnis (lacht). Ansonsten arbeite ich einfach, insofern brauche ich zusätzlichen Aufgaben nicht.
Haben Sie noch weitere Vorschläge für so eine Situation wie jetzt? Wir wissen ja alle nicht, wie lange es noch dauert.
Das klingt vielleicht paradox. Aber extrem hilfreich ist natürlich, den indirekten Kontakt mit anderen Menschen zu suchen. Aber einfach mal Freunde anrufen oder insbesondere Leute, mit denen man seltener Kontakt hat. Was man jetzt vermeiden sollte ist, dieses in sich zurückziehen und nur noch für sich selbst sein. Man sollte weiter den Kontakt nach außen suchen, aber eben unter veränderten Vorzeichen.
Ein anderer Tipp - etwa von U-Bootfahrern oder Astronauten lautet - den Tag strukturien. Machen Sie einen Plan?
Klar, eine Grundstruktur ist wichtig, dass man nicht ewig im Bett liegt oder auf dem Sofa irgendwelche Filme zu schauen. Man sollte sich kleine Ziele, Aufgaben stecken, die man abarbeiten kann. Diese Struktur muss nicht auf die Minute genau sein. Aber wichtig ist, dass man den zeitlichen Rhythmus beibehält, aufsteht, an die Arbeit setzt, ein Projekt verfolgen, zu regelmäßigen Zeiten essen, darum geht es.
Bei ihrem Marsexperiment, gab es da bestimmte Fixpunkte wie: Nach 14 Tagen hat man sich an die Situation gewöhnt, nach einem Vierteljahr will man da am liebsten raus und so weiter?
Schon, es ist aber schwer, das an fixen Zeiträumen fest zu machen. Bei uns hat sich eine gewisse Viertelung des Jahres gezeigt. Das tritt generell bei Langzeitmissionen häufiger auf. Das erste Viertel - in unserem Fall drei Monate - da war alles neu und ungewohnt. Man beschnuppert sich.
Alles, was die anderen erzählen, ist wahnsinnig spannend. Im zweiten Viertel, nach ein paar Monaten, tritt eine Gewöhnung ein: Man kennt die Geschichten der anderen. Wir haben eine gewisse Routine erreicht und konnten uns gut aufeinander abstimmen: Wer übernimmt gerne welche Aufgaben? Nach etwa der Hälfte der Zeit hat sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt. Die Stimmung ging nach unten, wir waren nicht mehr so produktiv, alle waren ein bisschen träge. Man kennt die Macken der anderen und alle ihre Geschichten, aber das Ende ist noch weit weg, dass man sich noch nicht darauf freuen kann. Das ist eine schwierige Phase.
Zum Ende, im letzten Viertel kommt dann die Vorfreude: Ja, ich kann bald meine Familie und meine Freunde wiedersehen, ich kann draußen herumlaufen.
Diese Einteilung lässt sich aber nicht eins zu eins auf die jetzige Situation übertragen, weil das Ende noch nicht bekannt ist. Wir können im Moment nur "auf Sicht fahren", also schauen, wie sich die Virusausbreitung verändert. Mitte April werden wahrscheinlich die ersten Beschränkungen aufgehoben, und dann zeigt sich, ob die Zahl der Infektionen steigt oder nicht. Und die Beschränkungen werden nicht alle auf einmal aufgehoben. Es gibt nicht wie bei uns diesen Stichtag, den 28. August 2016, an dem alles vorbei ist. Es wird wohl eher ein langsames Zurückgleiten in den Alltag.
Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn es wieder losgeht?
Auf meinen Urlaub, den nicht absagen musste. Ich wollte nach Island (lacht). Im Vergleich zu den vielen Leuten, denen es gerade um die Existenzgrundlage geht, ist so ein abgesagter Urlaub aber ein reines Luxusproblem. Ich habe ein Dach überm Kopf, ich kann mir das Essen leisten, mir geht es eigentlich ganz gut!
Hat die Situation gerade etwas gutes für Sie gebracht?
Ich habe viel Sport gemacht. Derzeit geht nur Fahrradfahren, Laufen, Wandern oder Inlineskaten. Paradoxerweise bin ich dadurch gerade viel häufiger draußen, als in meinem normalen Alltag. Das finde ich nicht verkehrt.