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Buchtipp der Woche Welt ohne Ende. Vom Energiewunder zum Klimawandel
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15. Mai 2022, 15:00 Uhr
Comiczeichner trifft auf Klimaforscher und macht eine Graphic Novel daraus. Entstanden ist ein gut lesbares, unterhaltsames und provokantes Buch, das mit hohem Tempo, großem Einfallsreichtum und einer wunderbaren Liebe zum Detail die Themen Energie und Klimakrise behandelt. Diese Neuerscheinung bietet starke Anreize für eine intensive Diskussion, meint MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner.
Ernstes Thema, unterhaltsam nähergebracht
Eine simple Story zu einem gigantischen Problem. Ein Mann um die 50 stellt fest, dass es nicht mehr so weiter gehen kann. Der Klimawandel und die Angst vor der Katastrophe haben auch ihn erreicht. Und da dieser Mann zufällig einer der bekanntesten Comickünstler Frankreichs ist, macht er eine Graphic Novel daraus. Er zeichnet sich also selbst auf der Suche nach Wahrheit und Lösung. Und die kommt in Gestalt von Jean-Marc Jancovici daher, einem der gefragtesten Klima- und Energieexperten seines Landes, der ihn in seine Welt und seine Gedanken einführt.
Einfaches Prinzip, sensationelles Ergebnis – zumindest bis Seite 128 (aber dazu später mehr...). Eine klassische Zweierkonstellation also à la "Laurel & Hardy" oder "Asterix und Obelix", die ihre Stärke in ihrer zeichnerischen Umsetzung entfaltet und damit manch einem trockenen Buch über die Klimakatastrophe mehr als nur Paroli bieten kann. Christophe Blain, so heißt der Zeichner, lässt sein Alter Ego, leicht zu erkennen an der sehr charakteristischen Nase, in alle möglichen Rollen schlüpfen, ob Popeye oder schwitzender Fahrschüler, telegrafierender Postangestellter in einer Westernstadt oder ewig durstiger "Iron Man", der in diesem Buch die Energie symbolisiert und immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen auftaucht.
In all diesen Gestalten, aber vor allem auch als Blain selbst, ist er nun dabei, wenn Jancovici über Energie und Klima spricht (so die beiden Hauptüberschriften des Buches), manchmal auch nur als Stichwortgeber. Und scheut sich auch nicht, sich zum Affen zu machen, um den Experten das ganze Thema von Grund auf erklären zu lassen – die Leser*innen werden es ihm danken. Und so beginnt Jancovici auch wirklich mit den Basics (vom Energieerhaltungssatz bis zur Geschichte und Bedeutung des Öls für Industrialisierung und Wohlstand), um dann sehr klar, verständlich und, ja, auch unterhaltsam die Probleme abzuleiten, mit denen wir alle heute zu kämpfen haben. Da begeben wir uns auf Zeitreisen nach Mesopotamien oder zum Ölrausch in die USA, beschäftigen uns mit Wirtschafts- und Wachstumsphilosophie, Waldsterben, Ernährung, Verkehr und Viehhaltung.
Normalo und Superman
Jean-Marc Jancovici und Christoph Blain, die Autoren des Buchs, sind gleichzeitig auch die Hauptpersonen der Erzählung. Blain, der sich selbst als neugierig fragenden, auch manchmal etwas ängstlichen Normalo darstellt, ist der gelegentlich ein bisschen verpeilt wirkende, neugierig nachfragende Zeichner, der seine Angst vor dem Klimawandel mit dem Zeichnen von Western unterdrücken will, der aber feststellt, dass er dem Thema nicht entkommen kann. Dass er sich als Künstler gern mit aktuellen Fragen auseinandersetzt (z.B. mit einem Comic über einen vegetarischen Koch oder auch die Politsatire "Quai d’Orsay"), erfahren wir erst im Impressum. Und in einem einzigen Bild, in dem er sein erstes Buch zitiert, eine Reportage über Bangladesch.
Dafür gibt es im Buch selbst sehr viel mehr über Jancovici, den Klimaforscher, dessen Bio vier ganze Seiten gewidmet sind und dem Blain einen ziemlichen "Superman"-Status gibt: So erfahren wir, es ist "Einer, der nie aufgibt", ein "unermüdlicher Aktivist", der "höllisch sportlich" ist, ein "Essayist" mit dem "Blick eines alten Cowboys", dem "das spöttische Grinsen eines Spaßvogels, aber auch das offene Lachen eines gutmütigen Lebemannes" zu eigen ist. Jancovici, auch das erfahren wir, ist Absolvent der renommierten École polytechnique in Paris und Gründer des Shift Project, das "auf die Reduzierung der ökonomischen Abhängigkeit von fossilen Energien hinarbeitet." Wie er das macht, dazu später mehr.
Tanz auf den Ölfässern
Der Dialog der beiden omnipräsenten Hauptfiguren, des Fragenden auf der einen Seite und des Wissenden auf der anderen, geht auf. So, wie wir alle wahrscheinlich Obelix mehr lieben als Asterix und auch den "doofen" Laurel seinem Kumpel Hardy vorziehen, so erleben wir die Klimafragen aus der Sicht des bewusst naiven Zeichners und freuen uns, dass er Fragen fragt, die wir uns nicht zu fragen wagen. Und haben manchmal auch Mitleid mit ihm, ob er nun 15 Tonnen Erde mit der Hand schaufeln muss, um die Menge von 0,05 kWh zu begreifen oder als Luke Skywalker Meister Yoda mit den Gesichtszügen von Jean-Marc Jancovici auf dem Rücken trägt.
Die Liebe zum Detail durchzieht das gesamte Buch, die Freude am Zitieren und Parodieren vieler Vorbilder, von Star Wars und Mad Max bis Asterix, von Charlie Chaplin bis Jean Giraud (Moebius). Und auch echte Menschen tauchen auf. Ob nun Jean-Baptise Say und Charles Dupin ihre Wirtschaftstheorien darlegen, Edwin Drake nach Öl bohrt, Marie Curie zur Radioaktivität zitiert wird, Greta Thunberg einen Blitz auf den Ölverschwender abschießt oder Club-of-Rome-Mitglied Yoichi Kaya wie aus dem Nichts auftaucht, um auf einer formvollendet übergebenen Visitenkarte seine Formel zur Bestimmung der Treibhausgase in die Diskussion zu bringen.
Das alles geschieht in einem atemberaubenden Tempo. Da jonglieren sich Blain und Jancovici auf Ölfässern durch die Rohstoffpreise von anderthalb Jahrhunderten, werden sie von einem Saurier auf die Entstehung der Kohle angesprochen, rudern über unheimliche Meere, erklimmen den Anstieg des Wirtschaftswunders und treffen sogar Mutter Erde aka Frau Natur, die, unter den Wellen ihrer üppigen roten Locken in sich ruhend, den beiden Abenteurern erklärt, wenn sie nicht schnell handelten, könnten sie auch einfach "warten, bis alles unbewohnbar ist".
Und dann kommt Seite 128
Fast genau nach zwei Dritteln des Buches kommt der bereits erwähnte Moment, an dem ich schlucken musste. Ein Schock für jede*n Leser*in, der oder die glücklich war (und ist) über jeden Staat, der sich aus der Kernenergie zurückzieht. Denn genau diese Kernenergie ist es (zu der in Frankreich ja ohnehin ein anderes Verhältnis existiert als bei uns), die nach Überzeugung von Jancovici das kleinste Übel im Kampf gegen die Erderwärmung darstellt. Gefahren wischt er vom Tisch. Tschernobyl? Falsche Reaktorbauweise und Anweisungen ans Personal, die Sicherheitssysteme abzuschalten. Fukushima? Kann in Frankreich nicht passieren! Schutz vor militärischen Angriffen? Kein Thema. Todesfälle? Krebs? Ja, 30 Tote und 6.000 Kinder mit späterem Schilddrüsenkrebs in Tschernobyl. Aber, so Jancovici, ein Krebs, "der gut behandelt werden kann". Außerdem seien die Todesfälle und Krankheiten, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, wesentlich schlimmer.
Das ist erstmals starker Tobak. Auch für mich ganz persönlich. Aber da wir es hier nicht mit simplen populistischen Forderungen ohne wissenschaftliches Fundament zu tun haben, sondern mit einem ernstzunehmenden Diskussionsbeitrag, der im Prinzip die Energiepolitik unseres Nachbarn Frankreich erheblich prägt, sollte auch dieses Buch bei aller Leichtigkeit der Darstellung seinen Beitrag zum Diskurs leisten können. Auch – und gerade – in Deutschland, das mit seinem Ausstieg aus der Kernkraft einige Kritik von Jancovici abbekommt. Zumal man dem Experten zugestehen muss, dass er sie nicht als Lösung aller Probleme ansieht, sondern als "Rettungsschirm" im Zusammenwirken mit den Erneuerbaren.
Einladung zum Diskurs
Das Buch ist so gnadenlos wie das Thema, um das es geht. Es ist unterhaltsam, ja bisweilen auch richtig lustig, aber genau diese Stellen sind es oftmals, bei denen einem das Lachen im sprichwörtlichen Hals stecken bleibt. Wenn z.B. Blain mit Serviette, Messer und Gabel ausgerüstet, traurig auf seinen dampfenden Teller starrt, dann wird die Aussage "Die Kartoffelernte ging 2019 um 40 % zurück" plötzlich fassbar. Oder wenn die Treibhausgase die Form eines Monsters angenommen haben, das sich auf die Waage stellt, um nicht zu schwer zu werden. Oder Blain am Fallschirm der Fossilen Energien hängt, der abbrennt, während er auf die Erde zuschnellt.
Und dann wären da noch die vielen kreativen Einfälle, um schnöde Statistiken, Grafiken und Tabellen in optisch ansprechende und gleichzeitig auch eingängige Bilder zu überführen. Zeitstrahlen werden zu Zeitreisen, Diagramme zu Landschaften oder Storys. Und wenn Blain und Jancovici mit dem zynischen Kommentar "Noch schöner als der Atlantikwall, oder?" auf eine 100 m hohe und 100 m dicke Mauer zu segeln, die für einen Staudamm an der gesamten (!) deutschen Küste erforderlich wäre, um bei uns für nur zwei Wochen Strom zu sorgen, wird einem erst das Ausmaß des Problems deutlich.
Ein Buch, das leicht daherkommt und schwere Kost bietet. Bei dem viel hängenbleibt, ohne dass es sich wie Lernen anfühlt, das zum Diskurs einlädt und gute Grundlagen dafür liefert. Und das Schönste ist, wie bei vielen guten Comics: viele Details erschließen sich erst auf den zweiten oder dritten Blick.
Der Rezensent Carsten Dufner setzt sich intensiv mit erneuerbaren Energien auseinander und war nie ein Kernkraft-Befürworter. Dass es in der Wissenschaft (wie in diesem Buch) auch andere Positionen geben kann, ist für ihn aber selbstverständlicher Teil des öffentlichen Dialogs. Ansonsten betreut er bei MDR Wissen nicht nur diese Rubrik mit Buchempfehlungen, sondern ist auch Ansprechpartner für die Wissenschaftseinrichtungen im Land, für öffentliche Veranstaltungen der Redaktion und ist immer auf der Suche nach neuen Impulsen für Bildungsprojekte, Dokus und Podcasts.
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