Was wir lesen
Wissen, was wir lesen Subterranea. Die geheimnisvolle Welt unter der Erde
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01. August 2021, 15:00 Uhr
Einblicke in die Unterwelt: 40 Orte unter der Erde und ihre Geschichten, von Maya-Höhle und Labyrinth des Minotaurus bis hin zu Saatgut-Tresor und CERN-Teilchenbeschleuniger, stehen im Mittelpunkt einer Neuerscheinung, die keine Schubladen kennt. Vierzigmal geht es ganz nach unten. Eine Empfehlung von MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner.
Die Welt da unten
Was haben die georgische Werjowkina-Höhle, die Atom-Notunterkunft der britischen Regierung im Südwesten Englands und die Hölle gemeinsam? Nein: die, die eintreten, müssen nicht – wie bei Dante – alle Hoffnung fahren lassen. Sondern: alle drei liegen unter der Erdoberfläche. Und zwei davon (raten Sie mal, welche!) werden in diesem Buch vorgestellt.
Es geht um die Welt da unten. Subterranea, Strukturen "sub terra", also unter der Erde, Thema von Romanen, Gemälden, Filmen, Comics, aber eben auch dieses Buches. Ob menschengemacht oder von der Natur geformt – einziges Kriterium für die Aufnahme in den Band ist, dass der Ort unter der Erdoberfläche liegt. Und eben besonders spektakulär sein muss. Oder zumindest eine spannende Geschichte zu erzählen hat. So wie die von den besonderen Fischen, die in der Schwefelsäure der mexikanischen Cueva de Villa Luz überleben, dann aber von Menschen mit Hilfe von Gift gefangen (und gegessen) werden. Oder die geklonten Zitterpappeln in Utah, die unterirdisch miteinander sprechen. Die Suche nach dem legendären Labyrinth des Minotaurus oder der berühmte Fluchttunnel unter der Berliner Mauer.
Ein Buch zum Flanieren
Das Buch fesselt durch das bewusste Vermeiden klassischer Schubladen. Kein "Die schönsten Höhlen der Welt" oder "Eine Geschichte der europäischen U-Bahnen", sondern ein assoziatives Flanieren durch eine faszinierende Welt, von der wir im Alltag nur wenig mitbekommen. Und die ja schon per se einen großen Reiz entwickeln kann (denken Sie z.B. an die vielen Darstellungen der Hölle, die die Menschen nicht nur mit Angst, sondern oft auch mit einem voyeuristisch wohligen Schaudern betrachtet haben).
Schöne Höhlen kommen trotzdem vor. Und auch die U-Bahn – mit gruseligen Skelettfunden an der Londoner Haltestelle Liverpool Street Station aus der Zeit der großen Pest.
Kein Porträt in diesem Buch baut auf dem vorangegangenen auf. Von der Hodja Gur Gur Ata in Usbekistan geht’s ohne Übergang in den Süden Brasiliens, bevor wir uns in der berühmten Grotte Chauvet in Frankreich wiederfinden.
Sehr schöne Fotografien, die – zumindest bei mir – sofort den "Da-will-ich-hin-Reflex" auslösen, wechseln sich mit Illustrationen ab, die die Lage und den Aufbau der jeweiligen Orte anschaulich machen.
Vielseitigkeit von Autor und Illustrator
Wie so viele Bücher in unserer Reihe, ist auch Subterranea eine Zusammenarbeit zwischen einem Autor und einem Illustrator. Letzterer heißt hier Matthew Young, über den seine Bio im Buch nicht mehr zu berichten weiß, als dass der für "einige der größten und kleinsten Verlage der Welt" gearbeitet hat. Auf seiner Website und auf Twitter erfährt man dann über Illustrationen von Literatur, interaktiven Websites, bebilderter Statistik und der Gestaltung eines Plattenlabels.
Über Autor Chris Fitch sagt das Buch mehr: Journalist zu einem breiten Themenspektrum (von Ökologie über Geopolitik, Klimawandel und Reisen bis hin zur Kultur) und Autor vor allem von Büchern aus den Bereichen Geografie und Kartografie. Das Buch profitiert von dieser Vielseitigkeit.
Ein Buch für alle
Das Buch ist eine Ansammlung von 40 kurzen Porträts unterirdischer Sehenswürdigkeiten, jedes von ihnen nicht länger als vier oder fünf Seiten, Bilder und Illustrationen inbegriffen. Verbindungen zwischen den Texten gibt es nicht; einzige Sortierung ist die nach Entstehungszeit der Location : "Schöpfung", "Frühgeschichte", "Neuzeit" und "Gegenwart", jedes Kapitel mit genau zehn spannenden Welten aus der Tiefe. dazu ihre exakten Koordinaten und ein Kartenausschnitt zur besseren Orientierung..
Die Texte, übersetzt von Dieter Löffler, lesen sich flüssig, brechen die doch eher abstrakten Orte herunter auf Menschen und Geschichten und lassen auch, in bester Tradition englischsprachiger Wissenschaftskommunikation, viel Witz und Lässigkeit erkennen, den Wunsch, wirklich alle Menschen mitzunehmen und nicht im Elfenbeinturm der Forschung zu verharren. Unterstützt wird das von Fotos, vor allem aber auch von Illustrationen (wie Karten oder Querschnitten), die einen guten Eindruck von der vorgestellten Sehenswürdigkeit vermitteln (die wir aber aus Rechtegründen hier leider nicht abbilden dürfen). Ein Buch, das man gern immer mal wieder zur Hand nimmt.
Fakten, die hängen bleiben
Vieles bleibt hängen nach der Lektüre. Neben der grundsätzlichen, eher philosophischen Frage danach, was "da unten" für uns bedeutet und ob der Gedanke daran immer noch mit Urängsten verbunden ist, gibt es viele schöne Details, die im Gedächtnis bleiben. So z.B., dass im australischen Coober Pedy, das wegen der lokalen Temperaturen von bis zu 50 Grad komplett unter der Erde liegt, die "Baukosten" für ein Eigenheim aus der Miete einer Tunnelbaumaschine bestehen (Kostenpunkt 25.000 australische Dollar) oder dass man in Usbekistan erstmal die (natürlich oberirdische) Steilwand Hodja Gur Gur Ata erklimmen muss, bevor man den Eingang der unterirdischen Höhle betreten kann. Nicht vergessen wird man auch, welche Rolle die Tunnel von Cu Chi im Vietnamkrieg gespielt haben, dass in Turkmenistan seit 1971 ein Tor zur Hölle brennt und dass von der legendären Terrakotta-Armee in China mit ihren 2.000 Kämpfern bislang überhaupt nur ein Viertel der Soldaten ans Tageslicht gekommen ist.
Und haften bleibt auch, dass der Klimawandel nicht vor der Unterwelt haltmacht. Im Gegenteil! So droht ein nukleares Desaster im Eismeer allein deshalb, weil die unterirdische Stadt Camp Century, die die amerikanische Regierung Ende der 1950er-Jahre in Grönland gegraben hat, ihren radioaktiven Abfall direkt ins Eis geleitet hat. Und dieses Eis jetzt schmilzt. Wir erfahren, dass die Überschwemmungen in Tokio zum verzweifelten Bau der weltgrößten unterirdischen Entwässerungsanlage geführt haben, in Spitzbergen das Saatgut der Menschheit vor dem Aussterben gerettet werden soll, in Island mit der Verpressung von CO2 in 800 m Tiefe experimentiert wird und am Südpol anhand von (bis zu 800.000 Jahre alten) Eisschichten Klimaveränderungen nachvollzogen werden können.
Der Rezensent … hat sich die Neugier seiner Kindheit erhalten. Ihn interessieren dabei weniger die Dinge, die weit weg oder weit zurückliegen als eher die wissenschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt. Und das, was unser aller Zukunft ausmacht. Liebt die Vermittlung von Wissen, engagiert sich für die Bildung und betreut als Redakteur auch diese Rubrik der Buchempfehlungen: "Wissen, was wir lesen?"
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