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Buchtipp der Woche Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten
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20. März 2024, 08:49 Uhr
Sie kennen die Wahrheit, aber die Menschen um Sie herum begreifen das nicht? Dann ist dieses Buch genau das richtige für Sie, findet MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner, der beim Lesen dieser Neuerscheinung oft über sein eigenes Weltbild nachgedacht hat. Das Gehirn, wie es funktioniert und was es mit uns macht. Und warum wir vorsichtig sein sollten mit dem Urteil über andere.
Sind wir nicht alle ein bisschen irrational?
"Fake News" (t)witterte Donald Trump bei allem, was seiner eigenen Überzeugung widersprach. Kreationisten stellen die Evolution in Frage, Reichsbürger die Existenz unseres Staates, und Coronaleugner behaupten bis heute hartnäckig, dass wir es mit einer einfachen Grippe zu tun haben. Und wir? Wir stehen dabei und fragen uns, wie Leute so abwegige Thesen vertreten und von diesen sogar überzeugt sein können. Und warum wir so schlau sind und die anderen das nicht begreifen.
Aber, ganz ehrlich: Sind wir völlig frei davon, nur das zu glauben, was wir gern glauben wollen? Das, was unsere (Vor-)Urteile bestätigt und uns in unserem Weltbild am wenigsten durcheinanderbringt? Nein, sagt Philipp Sterzer, die Vernunft selbst ist vielleicht nur eine Illusion. Eigentlich sind wir alle eher irrational - die einen mehr, die anderen weniger, aber niemand ist ganz davor gefeit. Das Buch schafft natürlich keine Abhilfe – das wäre ja der Widerspruch in sich –, aber es hilft zu verstehen, warum "die anderen" (und natürlich nur die!) manchmal so merkwürdig drauf sind. Aber auch, warum wir selbst nicht immer vernünftig argumentieren.
Perfect Illusion
Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis nimmt uns Philipp Sterzer mit zu den Grundlagen der Gehirnforschung – und zu Beobachtungen, die wir alle täglich machen können. Vor allem lässt er uns, über einen spannenden Exkurs zur Schizophrenie, Krankheitsbilder um Wahn und Psychose verstehen – um dann festzustellen, dass es hier kein "gesund / krank" gibt, sondern eher gleitende Übergänge. Sogar die sprichwörtliche Nähe von Genie und Wahnsinn widerlegt er nicht, sondern zeigt, warum diese Annahme möglicherweise gar nicht so falsch ist.
Das Faszinierende an seiner Darstellung ist, dass es für jede aus unserer Sicht "unvernünftige" Handlung oder Meinung eine "vernünftige" Erklärung gibt, so dass wir uns nicht damit zufrieden geben sollten, "die anderen" als dumm, schlecht informiert oder ignorant abzutun, sondern zu lernen, warum sie so denken, wie sie das tun. Um dann ggf. auch mit Argumenten oder Taten zu überzeugen – was schwer genug ist.
Beispiele? Die "Clustering Illusion". Um die Welt in ihrer Komplexität wahrnehmen zu können, sucht unser Gehirn nach Mustern und Regelmäßigkeiten. Und konstruiert dabei auch Muster, die gar keine sind: Wenn in zwei Nachbarhäuser ein Blitz eingeschlagen hat, ist mein Haus das nächste. Oder auch das "Predictive Processing": Anders, als es Sterzer noch in seinem Studium in den 90ern gelernt hat, reagiert das Gehirn nicht einfach nur auf Reize von außen, sondern arbeitet permanent an einem eigenen Bild von der Welt, das es ihm erlaubt, Vorhersagen zu treffen von Ereignissen, auf die es dann leichter reagieren kann. Und eben dieses Weltbild ist es, was die Grundlage ausmacht von dem, was ich denke und tue. Und was so schwer zu korrigieren ist – ob bei einem Klimaleugner, einem Reichsbürger oder bei einem Menschen wie dir und mir.
Verbindung von Forschung und Praxis
Philipp Sterzer ist Psychiater und Neurowissenschaftler. Seit 2022 ist er Professor für Translationale Psychiatrie an der Uni Basel und sorgt in dieser Funktion dafür, dass die Erkenntnisse der Forschung eng mit der Praxis verknüpft sind – als Chefarzt des "Zentrums für transdiagnostische Früherkennung und -intervention" an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Zuvor war der 1970 geborene Wissenschaftler, nach Studien in München, Boston und Berlin, Oberarzt an der Berliner Charité. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich computergestützter Modellierung und Klassifikation von Veränderungsprozessen und psychischen Störungen.
Sein eigenes Gehirn hält Sterzer übrigens als Jazzflötist fit – Musikmachen gehört ja zu den Tätigkeiten, die beide Gehirnhälften gleichermaßen beanspruchen. Der Titel "Between the waves", den er mit der Band "Quadro Nuevo" eingespielt hat, ist allerdings weniger ein Hinweis auf neuronale Strömungen als auf einen musikalischen Segeltörn auf dem Mittelmeer.
Ein Fußballfan auf dem Tennisplatz
Sterzer holt die Leser*innen in ihren alltäglichen Erfahrungen ab. Er bringt Beispiele, erzählt aus seiner psychiatrischen Praxis oder konstruiert Vergleiche, die komplexe Abläufe im Gehirn verständlich illustrieren. Wenn er sich z.B. als bekennender Fußballfan auf den für ihn eher unsicheren Tenniscourt begibt, um unsere Augen und unser Gehirn bei der Arbeit zu beobachten, ist das sehr viel plastischer und auch besser nachzuvollziehen als eine Beschreibung von universitären Versuchsaufbauten.
Dabei ist seine Argumentation stets sachorientiert und logisch aufgebaut. Aus A folgt B. Wissenschaft und Alltagserfahrungen wechseln sich ab und ergänzen sich. Und selbst ein Ausflug in die Neurobiologie ist verständlich und nachvollziehbar. Und da er all das mit sehr viel Witz tut, sich selbst dabei nicht verschont und auch noch gut erzählen kann (dazu zieht er auch mal außerirdische Wissenschaftler hinzu), macht es Spaß, seinen Ausführungen zu folgen.
Überleben geht vor Wahrheit
"Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten", heißt es im Untertitel dieses Buchs. Ich weiß nicht, ob sich Menschen das Buch kaufen, um ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen oder doch eher, um zu erfahren, warum andere so unvernünftig sind. Ist aber auch egal. Wenn wir es lesen, tun wir automatisch beides. Und ohne es zu merken, kommen immer wieder diese Punkte, an denen man sich ertappt fühlt: Gilt das jetzt nicht auch für mich?
In jedem Fall ist es hochspannend zu lesen, wie logisch die Unvernunft ist. Warum die Konsistenz einer Argumentation für uns oft wichtiger ist als die Rationalität, warum für uns oft die Tatsache, wer uns eine Information überbringt, wichtiger ist als die Information selbst oder welchen Unterschied starke und schwache Sinneseindrücke für die Korrektur unseres Weltbildes spielen, erfahren wir von Sterzer ebenso wie das grundlegende Prinzip, dass unser Weltbild sich nicht nach Wahrheit ausrichtet sondern vielmehr nach der Variante, die uns unser Überleben am besten zu sichern verspricht.
Eine Empfehlung!
Der Rezensent
Carsten Dufner versucht ebenfalls, sein Gehirn mit Musik fit zu halten und findet Philipp Sterzers Kombination von Segelboot und Jazz außerordentlich verlockend. Bei MDR WISSEN betreut er nicht nur diese Rubrik mit Buchempfehlungen, sondern ist auch Ansprechpartner für die Wissenschaftseinrichtungen im Sendegebiet des MDR sowie für öffentliche Veranstaltungen der Redaktion und ist immer auf der Suche nach neuen Impulsen für Bildungsprojekte, Dokus oder Onlinebeiträge.
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