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Wissen, was wir lesen Erneuerbare Energien zum Verstehen und Mitreden
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14. November 2021, 15:00 Uhr
Dass es ohne Energiewende nicht geht, ist uns allen klar. Nur über das "Wie" herrscht Uneinigkeit. Ideologisch motivierte Argumente und Lobbyarbeit erschweren eine neutrale Information und eine an wissenschaftlichen Fakten orientierte Diskussion. Wer sich ein objektives Bild von den Möglichkeiten machen möchte, ideologiefrei Argumente der Lobbyisten überprüfen will, ist mit diesem Buch gut beraten, findet MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner.
Informieren, denken, diskutieren – nicht umgekehrt
Vier Wissenschaftler und fünf Grafiker*innen. Und ein gemeinsames Ziel: "Mit diesem Buch wollen wir zur Diskussion über erneuerbare Energien einen Beitrag leisten. Reden auch Sie mit." Eine wohltuende Aussage in einer Zeit der schnellen Urteile, der "eigenen" Wahrheiten, der ideologie- und lobbygesteuerten Auseinandersetzungen über das, was uns alle beschäftigt: den besten Weg zu finden, unseren ungeheuren Energiehunger und die Rettung vor einer Klimakatastrophe zusammenzubringen. Die klare Botschaft: Erst informieren, dann denken, dann reden. Nicht umgekehrt.
Wie ernst es das Autorenteam mit der objektiven Information meint, wird schnell deutlich. So taucht unter "Biomasse" wie selbstverständlich auch die "alte Biomasse" Erdöl, Gas und Kohle auf. Und mit ihr die Erklärung, warum langes Entstehen und schnelles Verfeuern nicht zusammenpassen. Und auch die Kernenergie, ob Spaltung oder Fusion, wird behandelt. Nicht um ihr das Label "Erneuerbare" umzuhängen, sondern einfach, um uns Leser in die Lage zu versetzen, uns fachlich mit denen auseinanderzusetzen, die die Kernkraft (Stichwort: "Generation IV") als Lösung der Klimakrise wieder aus dem Hut zaubern.
Es geht ums Informieren, nicht ums Bekehren. Oder, wie es die Autoren sagen: "Es ist durchaus möglich, dass Sie zu anderen Schlussfolgerungen gelangen als wir. Aber das macht nichts, das Wichtigste ist zunächst ein gutes Verständnis der zugrundeliegenden Tatsachen." Was kann ein Wissenschaftsbuch mehr leisten?
Die Einheit "Fahrrad"
Wenn fünf Grafiker*innen an einer Veröffentlichung zu einem Wissenschaftsthema beteiligt sind, kommen dabei nicht nur einfache Illustrationen heraus. Vielmehr liegt dem ganzen Buch ein integrales grafisches Konzept zugrunde, das erheblich zum Themenverständnis beiträgt. Die gleichermaßen einfache wie geniale Idee: Energie nachvollziehbar und vergleichbar machen. Eine Kilowattstunde (kWh) ist die Energie, die ein Mensch bei einer zehnstündigen Fahrradfahrt produziert. Und so tauchen stilisierte fahrradfahrende Menschen überall im ganzen Buch auf, riesige Körper mit kleinen Köpfen, je nach Energieform in jeweils anderem Look – einer pro kWh pro Person und Tag, hochgerechnet auf die gesamte Energie, die wir in Deutschland erzeugen, aber auch verbrauchen. Ein "Fahrrad" sozusagen, nicht zu verwechseln mit der Einheit Farad!
Die durchgehend in Pastelltönen gehaltenen Illustrationen können aber noch mehr. Sie machen die Prinzipien der jeweiligen Energiegewinnung deutlich, zeigen die Potenziale der einzelnen Energieformen, setzen die unterschiedlichen Gewinnungsarten in Relation zum Flächenverbrauch oder erklären grundlegende Phänomene der Natur. Und die beste Grafik kommt jeweils am Schluss eines Kapitels: Mit stoischer Gleichförmigkeit findet sich dort ein Säulendiagramm – eine Säule mit den festen Werten für unseren Primär- und Endenergiebedarf (120 resp. 85 Fahrräder), eine zweite mit der Energiemenge, die wir zur Zeit aus Erneuerbaren gewinnen können. Diesen Säulendiagrammen gegenüber jeweils die Gesamtfläche Deutschlands mit farbigen Quadraten für den Raum, den wir der jeweiligen Energieart zur Verfügung stellen müssen. Beide Illustrationen "wachsen" im Laufe des Buches, indem nach jedem Kapitel die jeweils vorgestellte Energieart hinzukommt.
Vier Wissenschaftler, fünf Grafikerinnen und Grafiker
Harald Lesch ist sicherlich der bekannteste der vier Autoren dieses Buches, als Astrophysiker ebenso wie als Wissenschaftskommunikator. Sein Sohn Florian ist Ingenieur für erneuerbare Energien und arbeitet als Berater, Umwelt- und Klimaschutzbeauftragter. Die zwei sind zu Christian Holler und Joachim Gaukel gestoßen, die sich bereits 2018 mit dem Buch "Erneuerbare Energien - ohne heiße Luft" zu Wort gemeldet hatten. Beide sind von Haus aus Mathematiker, Holler, auch promovierter Astrophysiker, an der Hochschule München, Gaukel an der Hochschule Esslingen.
Ihre Konterparts auf der grafischen Seite sind ebenfalls breit aufgestellt. Rund um Xuyen Dam, Professor für Typografie und Kommunikationsdesign an der Hochschule München, haben sich (Ex-)Studierende des Studiengangs versammelt, die sich dem Thema Buchgestaltung und Design aus unterschiedlichen Perspektiven nähern: Charlotte Kelschenbach, Manuel Lorenz, Anna Ehrnsperger und – beratend – Anna Lino Roeßle.
Die Daten zum Buch Christian Holler, Joachim Gaukel, Harald Lesch, Florian Lesch: Erneuerbare Energien zum Verstehen und Mitreden. Mit Illustrationen von Charlotte Kelschenbach, Manuel Lorenz, Anna Ehrnsperger, Anna Lino Roeßle und Xuyen Dam. Verlag C. Bertelsmann 2021, 176 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-570-10458-3
Einwände ernst nehmen, auch Entlegenes überprüfen
Autoren und Grafiker*innen schaffen es, Grundlagenwissen verständlich zu vermitteln, die einzelnen Energiequellen mit ihren individuellen Vor- und Nachteilen systematisch einzuführen und mögliche Gegenfragen der Leserinnen und Leser zu antizipieren. Steckbriefe und Bewertungen der Alternativen runden jedes einzelne Kapitel ab und Grafiken helfen bei der Einordnung von Einheiten und Relationen.
Mir persönlich gefällt vor allem, dass das Autorenteam auch den Umkreis der Erneuerbaren beleuchtet, dabei Randtechnologien wie Osmose- oder Aufwindkraftwerke berücksichtigt und der Speicherung von Energie, einem der Hauptangriffspunkte der fossilen Vertreter, ein eigenes Kapitel widmet. Indem sie jedes Argument, jeden Verweis auf Alternativen ernst nehmen, liefern die Macher des Buches eine solide Grundlage für jede Diskussion und entziehen sich möglichen Vorwürfen, einseitig nur bestimmte Technologien fördern zu wollen.
Raus aus der Blase
Es geht also. Auch bei einem Thema, das – vom Partytalk bis zum politischen Parkett – immer wieder Auslöser erbitterter Diskussionen ist: wie kommen wir weg von den klimaschädlichen Energieformen, hin zu einer dringend erforderlichen Neuaufstellung im Portfolio? Dass diese Diskussion sachlich geführt werden kann, beweist dieses Buch. Es zeigt, wie die Energiewende gelingen kann, spricht dabei aber auch unangenehme Wahrheiten deutlich aus: "Wir werden lernen müssen, überall in Deutschland mit deutlich mehr und deutlich sichtbarerer Energie-Infrastruktur wie Windkraftwerken, Fotovoltaik-Anlagen, Energiespeichern, Strom- und Wärmenetzen zu leben - zusätzlich zur Energieeinsparung."
Und was bleibt noch hängen? Dass in den nächsten Jahrzehnten nicht mit einem massiven Ausbau neuartiger Atomkraftwerke gerechnet werden kann und dass das Argument einer Brückentechnologie damit nicht zieht. Dass die oft herbeigesehnten "neuen Technologien", von denen sich einige Menschen die Lösung aller unserer Klimaprobleme versprechen, aus wissenschaftlicher Sicht nicht schnell zu erwarten sind. Und, um mit dem Positiven zu schließen, dass bei all den positiven Entwicklungen im Bereich der Speichertechnik die "Schwankungen von Wind und Sonne kein Grund" sind, "den Ausbau der erneuerbaren Energien zu verzögern".
Der Rezensent … hat sich die Neugier seiner Kindheit erhalten. Ihn interessieren dabei weniger die Dinge, die weit weg oder weit zurückliegen als eher die wissenschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt. Und das, was unser aller Zukunft ausmacht. Liebt die Vermittlung von Wissen, engagiert sich für die Bildung und betreut als Redakteur auch diese Rubrik der Buchempfehlungen: "Wissen, was wir lesen?"
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