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Buchtipp der Woche Der Kolkrabe. Totenvogel, Götterbote, Tierisches Genie
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16. Dezember 2022, 07:20 Uhr
Er führt Beziehungen auf Augenhöhe und rollt sich in seiner Freizeit den Schneehang hinunter. Der Kolkrabe hat es verdient, dass wir uns näher mit ihm befassen, findet MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner nach Lektüre einer Neuerscheinung über diesen spannenden schwarzen Vogel. Ein großformatiges Buch mit zahlreichen außergewöhnlichen Einblicken in Leben und Wesen der Raben räumt mit den Vorurteilen auf, mit denen viele Menschen ihnen immer noch begegnen.
Zu Unrecht ungeliebt
Der erste Vogel, den Noah am Ende der Sintflut fliegen ließ, war ...? Nein, nicht die Taube. Der Rabe war’s! Aber weil er, anders als später die Taube, keinen zweiten Versuch bekam, wurde nicht er zum Friedensymbol, sondern seine viel uninteressantere Konkurrentin. Seitdem hat’s der Rabe nicht leicht; sein Ruf ist, vorsichtig gesagt, semi. Todesbringer, Galgenvogel – was wurde ihm nicht alles angedichtet, nur weil er sich eben von gehaltvoller Nahrung ernähren muss, man ihn also gelegentlich auch in Gesellschaft toter Tiere antrifft.
Natürlich gibt’s auch Positives über ihn zu berichten. Mit Hugin und Munin hatte z.B. Odin in der nordischen Mythologie zwei Raben als Götterboten und Ratgeber, und in einer indigenen Religion Nordamerikas, sagt Autor Heinrich Haller, nimmt das schöne schwarze Tier mit seinen metallisch schillernden Federn sogar die Rolle des Weltenschöpfers ein. Dann aber gibt es doch auch wieder Geschichten wie die aus Merseburg, wo ein Rabenpärchen in Gefangenschaft lebt, weil sein Vorfahre mit einem Ringdiebstahl dafür gesorgt hatte, dass der Bischof seinen Diener verdächtigte und hinrichten ließ.
Mit dieser Ambivalenz ähnelt der Rabe, sagt Haller, in vielerlei Hinsicht dem Wolf. Wie auch die Evolution und das Verhältnis beider zum Menschen viele Berührungspunkte aufweisen. Aber während es beim Wolf inzwischen viel Literatur gibt, die Meister Isegrim zumindest halbwegs rehabilitiert, fehlt es bislang an entsprechenden Veröffentlichungen zum Raben. Und so ist "Der Kolkrabe" ein lange überfälliger Beitrag, den ramponierten Ruf dieses wunderbaren Vogels zu verbessern.
Etwa 120 Arten von Rabenvögeln gibt es in der Natur, verteilt auf fast die ganze Welt, in warmen und kalten Gebieten, vom Meeresspiegel bis weit oben im Himalaya, wo Raben Bergsteigern bis auf über 8.000 Meter Höhe gefolgt sind. Der Kolkrabe, lateinisch Corvus corax, ist der größte unter ihnen und der kräftigste Singvogel überhaupt (mit einem sehr breiten Repertoire!). Die Tropen und Wüstenregionen meidet er; ansonsten ist er an vielen Orten der Welt anzutreffen, in wärmeren Regionen wie den Kanaren als etwas kleineres Modell, in kälteren Gebieten aber in seiner ganzen imposanten Gestalt – mit einer Spannbreite von bis zu 1,30 Metern!
Informative Texte und großartige Fotos
Kolkraben, so der Autor, sind scheue, vorsichtige Tiere, die schwer zu fotografieren sind. Eine leichte Bewegung mit dem Objektiv reicht, um sie für Wochen misstrauisch werden zu lassen. Umso beeindruckender sind die Fotos, die Heinrich Haller alle selbst geschossen hat und die einen großen Anteil an der Faszination haben, die von diesem Buch ausgeht. Fotos mit Raben aus Kalifornien und Lanzarote, aus Finnland, Nepal und Indien, vor allem aber aus der Schweizer Heimat des Autors, wo es Haller gelungen ist, einzelnen Exemplaren erstaunlich nahezukommen.
Aber das Buch ist kein reiner Bildband. Acht Textblöcke, allesamt reich an Informationen, aber immer in einer sehr verständlichen Sprache geschrieben und nie länger als vier der 216 großformatigen Buchseiten, sind in gleichmäßigen Abständen über das Buch verteilt. Sie erklären, liefern die Hintergründe zum Verständnis der Bilder, ordnen sie ein und bringen Fakten zu sehr unterschiedlichen Bereichen der Rabenforschung: zur Evolution, zu Eigenschaften und Vorkommen, zu kognitiven Leistungen u.v.m. Und das alles in einem Panoramaformat von 30 x 24 cm, das das Blättern auch zu einem sinnlichen Erlebnis werden lässt.
Der Kolkrabe als langjähriger Begleiter
Als "Naturfreund im tiefsten Innern mit einer Passion für Wildnis" beschreibt sich der Schweizer Biologe Heinrich Haller, Jahrgang 1954, in einem Interview aus dem Jahr 2020. Haller war Direktor des Naturmuseums St. Gallen, Professor an der Universität Göttingen und schließlich Direktor des Schweizerischen Nationalparks, bevor er 2019 in den Ruhestand ging. Einige der spannendsten Tiere haben ihn durch sein Leben begleitet. Der Uhu in der Jugend forscht, der Steinadler in seiner Doktorarbeit, der Luchs in der Habilitation und ganz lange auch der Kolkrabe, der ihm bei seinen Studien über die Wilderei zum Wegbegleiter wurde. Der Kolkrabe war dann auch Thema in seinem Abschiedsvortrag beim Nationalpark im August 2019 – die Grundlage für das vorliegende Buch.
Beobachtend, dokumentierend, kombinierend
Ornithologisches Fachbuch? Geschichten über einen faszinierenden Vogel? "Der Kolkrabe" ist beides. Haller selbst beschreibt den Charakter seines Buches so: "Es ist weder ein wissenschaftliches Werk noch eine herkömmliche Monografie über den Kolkraben. Allerdings kommt es aus der Hand eines Wissenschaftlers, der sich gegen Ende seiner beruflichen Karriere diesen Vögeln subjektiv, dafür mit breitem Blickwinkel angenähert hat – beobachtend, dokumentierend, kombinierend. Dies schließt komplexe Sachverhalte ein, speziell evolutionäre und kognitive Aspekte, die aber so einfach und knapp wie möglich behandelt werden. Dafür wird ästhetischen Aspekten sowie persönlichen Erfahrungen Raum geboten, ebenso wie weltanschaulichen Gesichtspunkten, denn beim 'Totenvogel und Götterboten' drängen sich solche Gedanken geradezu auf." Besser kann man es nicht sagen.
Vogel mit Freizeit
All denen, die (wie ich) den Raben schon vorher gemocht haben, zeigt dieses Buch, warum wir ihn lieben, bringt aber auch noch viel Neues, was wir vorher nicht wussten (zumindest gilt das für mich). Und für alle die, die eher skeptisch waren oder sind, ist das hier eine dringende Leseempfehlung. Ein Vogel, dessen Laute über einen Kilometer hinweg zu hören sind, der Reviere von 30 km², in Einzelfällen bis zu 200 km² bejagt und verteidigt, der – bis auf gelegentliche Blicke nach rechts und links – mit einem Partner oder einer Partnerin eine langjährige Liebes- und Jagdgemeinschaft bildet und der sogar Freizeit hat und diese aktiv gestaltet, sich ohne erkennbaren Sinn immer wieder im starken Wind treiben lässt oder sich im Schnee voller Lust abwärts kugelt – der kann doch nicht so verkehrt sein, oder?
Der Rezensent
Er weiß nicht. ob die Faszination, die Raben schon immer auf ihn ausgeübt haben, mit der Lektüre von "Krabat" begonnen hat. Das leichte Gruseln, das die Story aus der Lausitz (nicht die Raben!) bei ihm damals ausgelöst hat, ist jedenfalls inzwischen einem echten Interesse an diesen spannenden Tieren gewichen.
Bei MDR WISSEN betreut Carsten Dufner nicht nur diese Rubrik mit Buchempfehlungen, sondern ist auch Ansprechpartner für die Wissenschaftseinrichtungen im Sendegebiet des MDR und ist immer auf der Suche nach neuen Impulsen für Bildungsprojekte, Dokus oder Onlinebeiträge.