Buchtipp der Woche Das Weltall oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde
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10. Juli 2022, 12:00 Uhr
Der Niederländer Jan Paul Schutten schreibt Bücher über komplexe Dinge: die Evolution, den menschlichen Körper oder das Ökosystem Wald. Jedes ist ein kleines Kunstwerk, so auch dieses über das Weltall, findet MDR WISSEN-Redakteur Matthias Vorndran.
Ein sinnliches Buch
Vorneweg: Dieses Buch ist ein sinnlicher Genuss. Auch wenn es nicht für mich gemacht ist, sondern für Schulkinder ab 12: Allein es in der Hand zu halten, durchzublättern, die Schwere des Papiers zu spüren und die mehr als liebevolle Gestaltung zu bewundern, lässt mich an die immer gleichen "Was ist was?"-Ausgaben meiner Kindheit denken. Ja klar, die waren kindgerecht und pädagogisch wertvoll, keine Frage, aber "Das Weltall oder das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde" von Jan Paul Schutten und Floor Rieder spielt in Sachen Bibliophilie in einer ganz anderen Liga. Die schiere Schönheit dieses Werks verlangt eigentlich schon danach, es zu verschenken, vielleicht anlässlich des Wechsels auf eine weiterführende Schule?
Dieses Buch ragt heraus aus der Masse der Wissensbücher und ist nicht geeignet, von einer LeserIn einfach mal so „weggefressen“ zu werden. Denn dazu steht einfach zu viel drin.
Ein Erzähler wie ein guter Reiseleiter
Ähnlich wie die hier vor einiger Zeit schon vorgestellte Kinderausgabe von Bill Brysons "Eine kurze Geschichte von fast allem" hat sich auch Schutten viel vorgenommen: Alles, wirklich alles, über das es in der Welt der Astrophysik und Astronomie nachzudenken lohnt, findet sich hier auf gut 150 eher klein bedruckten Seiten wieder, aufgeschlüsselt in Kapitel, die selten länger als zwei, drei Seiten ausfallen – knackige Arbeitspakete für Schülerhirne, die sich aber noch aus einem anderen Grund nie überfordert fühlen dürften.
Dem Autor gelingt das Kunststück, mit einer behutsamen, nie anbiedernd jugendlichen, sondern immer wunderbar bildhaften, zugewandten Sprache (kongenial übersetzt von Verena Kiefer) jeden noch komplexen Sachverhalt zu einer Gedankenreise zu machen, in der Schutten wie ein guter Reiseleiter agiert: Er weist die Richtung, doch am Ende haben seine LeserInnen das Gefühl, sich das Erlebte selbst erschlossen zu haben.
Vom Mond aus tiefer in das Universum
Diese Reise zu den Sternen beginnt mit einem imaginären Flug zum Mond. "Tut mir übrigens leid wegen der Windel, die Du trägst, aber die wirst Du später dringend brauchen. Das nächste Klo ist nämlich 380.000 Kilometer entfernt. Und wenn es Dich tröstet. Jeder, der bislang hier gewesen ist, hatte so eine Windel. Es klingt nur nicht wirklich cool, wenn Du sagst, dass Du eine Windel trägst, deswegen reden Weltraumreisende lieber von Absorptionshosen. Aber Du bist nicht hier, um Dich über Windeln zu unterhalten. Du machst ein Gedanken-Zeitreiseexperiment."
So kommt Schutten immer wieder über vermeintlich kleine, überschaubare Szenarien in die ganz großen Themen: Der Aufbau unseres Sonnensystems? Lichtgeschwindigkeit und Zeitreisen? Dimensionen? Dunkle Materie? Wurmlöcher? Wer dieses Buch gelesen hat, ist fit für die Oberstufe, ohne sich je als Nerd gefühlt zu haben. Wie sehr hätte ich mir zu Schulzeiten auch nur einen Lehrer gewünscht, der ist wie dieses Buch.
Nur nicht zu viel Respekt
Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten die Kapitel-Überschriften. Schon ein kleiner Streifzug durch das Inhaltsverzeichnis macht deutlich, dass Respekt vor der hohen Wissenschaft das letzte ist, was dieses Buch von seinen LeserInnen einfordert: "3 Gründe, dieses Buch nicht anzuzünden", "Ein Haarbrötchen mit Zahnsoße" oder "Eine Ohrfeige von Einstein" leiten Passagen ein, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern zum lustvolIlen Nachdenken und Hinterfragen anregen und gegen Ende zu den ganz großen Fragen vordringen: Ist die Perfektion des Alls nicht ein Beweis für die Existenz eines Schöpfers? Und was würde uns diese Welt über ihren Schöpfer erzählen?
"Wenn es also einen Schöpfer gibt, muss er Zecken, Läuse und Maden sehr lieben, denn es gibt viele von ihnen auf der Erde. Und erst recht Käfer, denn von ihnen gibt es gleich zehntausend verschiedene. So kann ich noch eine Weile weitermachen: Matsch, Mücken, Nieselregen. Wir würden uns eine andere Welt ausdenken als diese."
Floor Rieder: Visuelle Wärme gegen die Kühle des Themas
Ich möchte noch einmal auf die wundervolle Sinnlichkeit zurückkommen, die dieses Buch ausstrahlt. Abgesehen von der sehr stabilen, schweren Hardcover-Aufmachung und der geschmackvollen Schrift geht die zu einem Gutteil auf das Konto der niederländischen Illustratorin Floor Rieder. Ihr gestalterisches Wagnis, der abstrakten, unübersichtlichen Welt der Astrophysik eine warme, organische, an manchen Stellen fast schon kindlich-naive Einfachheit entgegenzusetzen, ist großes Kunsthandwerk und verschmilzt mit dem Erzähl- und Erklärtalent Schuttens zu einer Einheit, die dieses Buch zu einem ganz besonderen Erlebnis werden lässt. Sollte ich meinen Kindern irgendwann einmal die Funktionsweise des Schweizer Kernforschungslabors CERN erklären müssen, werde ich Rieders Grafik dazu verwenden.
Über Jan Paul Schutten
Der Niederländer Jan Paul Schutten fand über einen Job als Werbetexter zum Bücherschreiben. Sein Erstling Ruik eens wat ik zeg ("Riech mal, was ich dir sage") erschien 2002, seitdem hat er über 40 Kinder- und Jugendbücher verfasst.
Der Rezensent MDR WISSEN-Redakteur und Familienvater Matthias Vorndran weiß, dass Kinder gern schwierige Fragen zu schwierigen Sachen stellen, aber komplizierte Antworten hassen. Deswegen ist er ständig auf der Suche nach Büchern, die diesen Spagat bewältigen. Wenn er eins gefunden hat, schreibt er hier darüber.
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