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Buchtipp der Woche Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen
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23. Oktober 2022, 10:00 Uhr
Was hat Erzählen mit der Evolution der Menschen zu tun? Wieso lieben wir Klatsch und Tratsch (und warum ist das gut)? Und was erklärt den Erfolg von Serien? All das erfahren Sie, wenn Sie dieses Buch lesen.
Sollten sie je ein schlechtes Gewissen gehabt haben, weil Sie sich beim Binge-Watchen in einer Serie verloren haben, oder das Tratschen mit Freunden über all die anderen so genießen – dieses Buch ist dafür die perfekte Entschuldigung. Hier finden sie Absolution, voll mit Wissenschaft. Denn unser Gehirn braucht das, vielleicht hat das sogar evolutionäre Vorteile (gehabt).
Aber, kleine Trigger-Warnung, ein bisschen Fleiß gehört dazu. Denn "Das narrative Gehirn" ist kein Nebenbei-Lesestoff (der Autor dieses Textes hat das im Sommer versucht und dann beschlossen, dieses Buch erst im Herbst abzuschließen). Das hat nicht nur damit zu tun, dass gelegentlich eine Häufung von Wörtern auftritt, die der psychologische Laie ohne Master in Neurowissenschaften eben doch nicht jeden Tag benutzt (Kontingenzsensibilisierung und Ambiguitätstoleranz). Das hat vor allem mit dem Wissen, den Erfahrungen und vielen Experimenten zu tun, die der Buch-Autor Fritz Breithaupt in seinem Berufsleben angesammelt hat und hier ausbreitet.
Was kann ich von dem Buch erwarten?
Es geht um das Narrativ, einen Begriff, der in den vergangenen Jahren seinen Weg in die Alltagssprache gefunden hat: Die Narration, die in Sprache fassbaren Geschichten, damit die Möglichkeit, Erfahrungen anderer zu teilen, ihre Erlebnisse mitzuerleben. Was das mit der Evolution der Menschen zu tun hat? Es bietet einen Überlebensvorteil, Erfahrungen anderer nicht erneut machen zu müssen (im Hinblick etwa auf gefährliche Tiere), oder einer nomadischen Gruppe über eine gemeinsame Erzählung die Möglichkeit, Zusammenhalt zu finden. Doch die Erzählung bietet noch mehr, vor allem emotionale Belohnung. Und da sind wir wieder beim Tratsch (der die Funktion des Lausens bei Affen ersetzt hat, zitiert Breithaupt) oder der süchtigmachenden Serie, bei der der Cliffhanger uns neugierig macht (oder wahnsinnig, wenn er besonders gut ist).
Traumata, Fakenews und metoo
Breithaupt bietet eine Übersicht über viele Aspekte des Themas. Und das unterstreicht mit vielen Quellen, Zitaten und Verweisen, da muss man als Leser durch. Am Ende jedes Kapitels gibt es dafür eine Zusammenfassung. Der Autor findet jedoch immer wieder den Weg in die Alltagswelt und unser Erleben und landet so mitten in hochaktuellen Diskussionen über Traumabewältigung, Fakenews, #metoo – oder Grimms Märchen (hier wird der Autor konkret, wo er bei anderen Geschichten eher vage bleibt). Letzteres ist alles andere als verwunderlich, wenn man über das narrative Gehirn schreibt, das dafür sorgt, dass unser Bewusstsein mobil ist, auf Reisen gehen kann.
Wer ist Fritz Breithaupt?
Lesern der Zeitschriften "Die Zeit" oder "Das Philosophische Magazin" ist Breithaupt vielleicht schon begegnet, denn dort schreibt er regelmäßig. Er ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der Indiana University in Bloomington. Dort erforscht er Narrative, moralisches Denken, Emotionen, Parteilichkeit, Ausreden, Gewalt und Überraschung. Aber auch Goethe und die Geistesgeschichte des Geldes faszinieren ihn.
Was ist jetzt mit den Neuronen?
Der Untertitel des Buches führt in die Irre. Denn die Neuronen spielen kaum eine Rolle bei der Erklärung der Narrative. Bei Breithaupt geht es eher um Psychologie, etwa, wenn er die Ergebnisse seiner groß angelegten Stille-Post-Spiele aufzeigt (mit bis zu 12.000 Teilnehmenden), mit denen er in seinem Experimental Humanities Lab herausfinden will, was der Kern einer guten Erzählung ist.
Erzählt mehr (gute) Geschichten
Fassen wir zusammen: Aktuelle Forschung trifft auf Erzählungen. Am Ende ist dieses Buch für Breithaupt ein glühender Appell für mehr gute Geschichten. Narrativ macht glücklich. Klatsch und Tratsch ist gut. Denn es gibt zwar jede Menge gute Geschichten, aber zu wenig erzählte. Wenn sie das als Aufruf verstehen, selber welche zu erzählen, fände Fritz Breithaupt das vermutlich sehr gut.