Covid-19 Impfreihenfolge Mediziner: Corona-Risikogruppen noch nicht ausreichend geschützt
Hauptinhalt
12. Mai 2021, 15:27 Uhr
Die Gesundheitsministerien geben die Vektorimpfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson frei für alle Impfwilligen über 18 Jahre. Mediziner sehen das kritisch, vor allem, weil die Risikogruppen noch nicht vollständig immunisiert sind.
Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Freiheit ist groß und scheinbar zum Greifen nah. Seit vergangener Woche ist die Impfreihenfolge beim Einsatz der vektorbasierten Impfstoffe von Astrazeneca und Janssen (Johnson & Johnson) offiziell aufgehoben. Jeder Patient über 18 Jahre kann sich nun nach einem Aufklärungsgespräch über individuelle Risiken und Nutzen impfen lassen, wenn er einen Impftermin bekommt. Verschiedene Wissenschaftler sehen das allerdings kritisch. Einerseits haben jüngere Patienten ein etwas höheres Risiko, schwere Schäden durch seltene Thrombosen zu erleiden. Andererseits gibt es immer noch sehr viele alte Menschen mit hohem Risiko auf schwere oder sogar tödliche Verläufe von Covid-19, die noch nicht geimpft sind.
Abweichung von der Impfreihenfolge bedeutet mehr Todesopfer durch Pandemie
Christian Bogdan ist Immunologe und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko). Die empfiehlt die Impfstoffe von Janssen und Astrazeneca eigentlich nur für Menschen über 60 Jahre. Die jüngeren, vor allem Frauen, haben ein größeres Risiko, eine Nebenwirkung zu erleiden, die jetzt "Thrombosen mit Thrombozytopenie Syndrom (TTS)" genannt wird. Doch das ist nicht der Grund, warum der Mediziner die jetzt erfolgte Freigabe des Impfstoffs für alle Altersgruppen durch die Gesundheitsministerien kritisch sieht. "Der Impfstoff ist für Menschen ab 18 Jahre ohne jede Kontraindikation zugelassen", sagt Bogdan. Das bedeute, nach einer Aufklärung über Risiken und Nutzen könne er auch in jüngeren Altersgruppen eingesetzt werden.
Problematisch sei etwas anderes. "Es gibt noch sehr viele Menschen, die durch Covid-19 viel stärker gefährdet sind als die Menschen, die jetzt aus anderen Motiven zum Impfen gehen." Mit anderen Worten: Eine Menge junge Menschen, die sich nach ihrer Freiheit sehnen, lassen sich nun schnell impfen. Viele ältere Menschen, die vielleicht weit weg leben vom nächsten Impfzentrum oder aus anderen Gründen schwierig zu erreichen sind durch die Impfkampagne, sind aber nach wie vor ohne Schutz. Und da sind die epidemiologischen Modellrechnungen klar: Wird die Impfreihenfolge nicht eingehalten, können weniger Menschen vor dem Tod durch das Virus gerettet werden, als möglich wäre.
Thrombosen werden wahrscheinlich durch Adenoviren ausgelöst
André Karch, Epidemiologe an der Universität Münster, sieht das genauso. "Wir haben immer noch einen relevanten Teil der Risikogruppen, der noch nicht ausreichend geschützt ist." Statt die Priorisierung aufzuheben, müsse die Politik zusätzliche Ressourcen einsetzen, um die schwieriger zu erreichenden Teile der Bevölkerung zu impfen. "Es geht jetzt um Personen, die nicht aktiv zur Impfung kommen, sondern die erreicht werden müssen", sagt er bei einem Pressegespräch des Sciencemediacenters. Das gelte beispielsweise für alte Menschen, die entlegen im ländlichen Raum lebten. Mit Blick auf die Berechnungen der Ausbreitung des Virus sagt Karch, schneller mehr Teile der Bevölkerung zu impfen, bringe nicht den gleichen Vorteil, wie gründlich bei den Risikogruppen zu sein.
Die Aufhebung der Impfreihenfolge für die Vektorimpfstoffe könnte nun zu dem Effekt führen, dass Jüngere auf eine Impfung mit Astrazeneca setzen, während Ältere einen mRNA-Impfstoff wählen. Das könnte auf der einen Seite das Impftempo zusätzlich verlangsamen, andererseits zu mehr Nebenwirkungen bei den Jüngeren führen. 67 Fälle von TTS, darunter viele Sinusvenenthrombosen, hat das Paul-Ehrlich-Institut bis zum 30. April gezählt, 14 Patientinnen und Patienten sind daran gestorben. Damit tritt die Nebenwirkungen in der am häufigsten betroffenen Gruppe der Frauen unter 60 Jahren bis zu 2,2 Mal pro 100.000 verabreichten Impfungen auf.
Für den ebenfalls vektorbasierten Impfstoff von Janssen gibt es zwar noch keine Zahlen aus Deutschland oder Europa. Die aus den USA übermittelten Fälle legen jedoch den Verdacht nahe, dass hier die gleiche Nebenwirkung auftrete. Wie häufig sie ist, lasse sich noch nicht sagen. "Das Meldesystem in den USA ist anders aufgebaut. Die übermittelten Zahlen können wir nicht einfach mit den Hintergrundfallzahlen aus Deutschland abgleichen", sagt Stiko-Mitglied Christian Bogdan. Dennoch habe die Stiko reagieren müssen. Der Mediziner glaubt, dass wahrscheinlich die Adenoviren das TTS auslösen. Sollte das zutreffen, würden die Thrombosen wahrscheinlich auch beim russischen Sputnik-V-Impfstoff auftreten.
Problem ist wahrscheinlich ein evolutionär alter Teil des Immunsystems
Andreas Greinacher, Leiter der Abteilung Transfusionsmedizin an der Universitätsmedizin in Greifswald, erforscht den Mechanismus, der in ganz ähnlicher Weise auch manchmal nach einer Gabe des Blutverdünners Heparin auftritt, bereits seit einigen Jahren. Er glaubt, dass es sich um einen angeborenen, evolutionär gesehen sehr alten Teil des Immunsystems handelt, der in seltenen Fällen fehlgeleitet werden könne. Inzwischen haben Greinacher und sein Team Proben von 59 der 67 gemeldeten Patienten im Labor untersucht. "Alle Patienten, die mit Astrazeneca geimpft wurden und die diese Thrombosen hatten, zeigen im Labor ein ganz typisches Muster. Immer kommt es zu hohen Titern von Antikörpern, die mit dem Plättchenfaktor 4 reagieren."
Die Nebenwirkung habe höchstwahrscheinlich zwei Stufen. Die Impfung aktiviere – möglicherweise durch Entzündungsreaktionen – den Thrombose-Mechanismus. Der schaukle sich dann nach etwa einer Woche selbst hoch, dabei spiele der eigentliche Impfstoff dann aber keine Rolle mehr. "Es ist wie ein Drache in einer Höhle, den man besser in Ruhe lässt. Wenn er erst einmal aufgeweckt ist, wird er selbst zum Problem", beschreibt Greinacher das Syndrom.
Inzwischen seien auch Fälle bekannt, bei denen es nach der zweiten Impfung zum TTS komme. "Eine gut überstandene erste Impfung schließt die Komplikation bei der zweiten nicht aus", sagt Greinacher. Wie groß dieses Risiko ist, lasse sich aufgrund der fehlenden Daten noch nicht sagen. "Die Impfreaktionen sind bei der zweiten Dosis meistens geringer. Um im Bild zu bleiben: Der Stein, mit dem man den schlafenden Drachen bewirft, ist dann kleiner." In ungünstigen Fällen könne es aber sein, dass er dann dennoch aufwache.
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/8b8ff091-b4cf-4b69-9727-c66440b70866 was not found on this server.