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Wissen, was wir lesen Aves. Vögel. Charakterköpfe
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21. März 2021, 15:00 Uhr
Basstölpel, Lachender Hans und Sekretär, dazu Geschichten von Brehm bis Game of Thrones? Ein Fotograf und zwei Journalist*innen haben sich mit 65 Vögeln beschäftigt und wunderbare, vielschichtige Porträts erstellt. Carsten Dufner hat sie sich angesehen und gelesen. Und ist begeistert.
Worum geht es?
65 Vögel im Porträt. Ganzseitige Fotos in Schwarz-Weiß, ganz nah dran an den Tieren, nur die Köpfe, keine Körper, keine Flügel, die die Vögel eigentlich doch erst als Vögel ausweisen. 65 Vögel, die nicht aufgeregt zappeln oder mit ihren Flügeln schlagen, sondern die ganz ruhig vor mir sitzen, mich genauso neugierig ansehen wie ich sie. "Vogelgesichter" nennt das der Fotograf; "Charakterköpfe" lautet der Untertitel des Projekts.
Das Buch hat keinen enzyklopädischen Anspruch, ist kein Führer durch die Vogelwelt, sondern folgt einer - nicht erklärten - subjektiven Auswahl des Fotografen; die einzige Systematik ist die Sortierung nach der Art der Nahrungsfindung. Neben den Porträts gibt es zu jedem Vogel einen Steckbrief (Merkmale, Vorkommen, Lebensweise und - wenn vorhanden - der "Rote-Liste-Status", also der Grad der Gefährdung). Und einen eher feuilletonistischen Text, der sich jedem Vogel in individueller Weise annähert.
Wie schafft es das Buch, mich zu fesseln?
Es sind natürlich erstmal die Fotos, die mich in ihren Bann ziehen. Neugierige und neugierig machende, kecke und ausdrucksstarke, stolze, aber auch verletzliche "Charakterköpfe" sind es, die ich immer und immer wieder anschauen könnte. Gerade in ihrer Reduktion ist der Ausdruck der Fotos besonders stark. Unterstützt wird diese Wirkung von den Texten, die - zusammen mit der wissenschaftlichen Einordnung - jedem Foto gegenüber stehen.
Diese Texte halten viele Überraschungen bereit. Mal ist es ein einfaches Gedicht, mal eine Episode, die der/die Autor*in mit dem Vogel verbindet, mal eine zweiseitige, mit Fakten durchzogene Geschichte - geschrieben immer mit großer Liebe zu den Tieren und oft auch mit viel Humor. Da wird Hochkultur von Grass und Neruda bis Rossini und Nietzsche zitiert, von trommelnden Kakadus und dem (wirklich lautstark gackernden) Lachenden Hans erzählt, und bei der Harpyie werden, ganz aktuell, die Sons of the Harpy in "Game of Thrones" ebenso herangezogen wie der Harpyienkuss von "Lady Chatterley"-Erfinder D. H. Lawrence. Und sogar ein Pelikanwitz darf nicht fehlen.
Wer hat's geschrieben?
Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Im Mittelpunkt und ganz oben auf dem Cover der Fotograf. Tom Krausz ist, auch als Kameramann, Spezialist fürs Dokumentarische. Seine Bücher reichen von Dylan Thomas und seine walisische Heimat bis zu einem Jerusalem-Band mit Menschen und Geschichten der Stadt. Die so erstaunlich vielseitige Journalistin Elke Heidenreich, die ihm dabei schon desöfteren zur Seite stand, ist auch hier eine kongeniale Autorin, die es locker schafft, eine Verbindung zwischen dem Helmhokko und Hegel herzustellen. Als nicht minder geistreicher Co-Autor ist der Journalist und Schriftsteller Urs Heinz Aerni dabei, dessen Zusatzausbildung zum Feldornithologen ihn für dieses Buch besonders qualifiziert. Dietmar Schmidt schließlich, Literaturwissenschaftler an der Uni Erfurt, bietet mit einem Essay zum Betrachten von Tieren einen fachgerechten Einstieg.
Wie ist es geschrieben?
Fotos und Texte gehen eine wunderbare Einheit ein, kein "Texte von A, mit Illustrationen von B". Der Aufbau ist einfach, aber wirkungsvoll: Der Blick fällt immer erst auf die rechte Seite, auf das großformatige Foto, um dann nach links oben zu den Fakten gelenkt zu werden, bevor es dann zum eigentlichen Text geht, der letztendlich doch wieder zum Foto zurückführt.
Die Texte im Faktenblock fassen lexikalisch kurz und sauber strukturiert die wichtigsten Infos zusammen (spannend vor allem die Stichworte zur Lebensweise), während die eher literarischen Beiträge von Heidenreich und Aerni keinem Schema folgen, sondern sich den Vögeln individuell geistreich-assoziativ annähern. Dass sie trotz dieser Unterschiedlichkeit, trotz ihres feuilletonistischen Grundtons erstaunlich viele Fakten vermitteln, spricht für das Konzept dieses Buches und seine Macher*innen.
Was bleibt hängen?
Viele Fakten rund um die vorgestellten Vögel bringt diese Neuerscheinung, ohne dass ich je den Eindruck hatte, hier durch ein ornithologisches Fachbuch zu blättern. Das Schöne dabei ist, dass ich mit diesem Wissen auf den momentan nicht stattfindenden Parties ebenso punkten kann wie bei der Diskussion mit meinen Kolleg*innen von MDR WISSEN. Beispiele gefällig? Schneeeulen legen ihre Eier (bis zu neun an der Zahl) in großen zeitlichen Abständen. Wenn es genug Futter in dem Jahr gibt, wird der gesamte Nachwuchs groß. Wenn nicht, fressen die etwas älteren Eulen die frisch geschlüpften Geschwister.
Oder: Der stolze und kluge Weißkopfseeadler ist vielleicht nur ein Mythos. Ich lerne hier ein etwas dummes Tier kennen, das beim Fliegen von Möwen gemobbt wird und von älteren Damen mit der Handtasche verscheucht wird, wenn er sich versehentlich auf ihren Yorkshire-Terrier stürzen will. Ein Vogel, der seine Nester manchmal so schlecht baut, dass Nest und Nachwuchs auf den Boden stürzen und man sich fragt, warum gerade so ein Vogel Wappentier der USA geworden ist.
Auch schön: Der große Schnabel des Tukan ist eine "Klimaanlage". Er nimmt ein Drittel der Körperlänge ein, wiegt aber fast nichts. Deswegen kippt er auch nicht um. Der Tukan, nicht der Schnabel.
Das Buch ist ein guter Anlass, sich mehr mit einer wunderbar reichen Spezies auf unserer Erde zu beschäftigen. Und sich auch mal auf die Suche nach dem Harpiyenkuss zu begeben.
Der Rezensent … hat sich die Neugier seiner Kindheit erhalten. Ihn interessieren dabei weniger die Dinge, die weit weg oder weit zurück liegen als eher die wissenschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt. Und das, was unser aller Zukunft ausmacht. Liebt die Vermittlung von Wissen, engagiert sich für die Bildung und betreut als Redakteur auch diese Rubrik: "Wissen, was wir lesen?"
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