Multi-Organ-Chip & Co. Tierversuche und ihre Alternativen
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19. Februar 2020, 15:14 Uhr
Jedes Jahr wird in Deutschland an fast drei Millionen Tieren geforscht. Tierversuche sind umstritten, aber auch unverzichtbar. Um aber die Zahl der Tests zu verringern, wird deutschlandweit an neuen Methoden gearbeitet.
An rund zwei Millionen lebenden Tieren wird jährlich in deutschen Laboren geforscht. Etwa 750.000 für Versuchszwecke gezüchtete Tiere werden pro Jahr getötet. Für die Gegner von Tierversuchen sind die Tests moralisch nicht akzeptabel. Wissenschaftler hingegen argumentieren, dass es ohne Tierversuche oft nicht geht. Immerhin werden durch sie erhebliche Risiken für den Menschen minimiert. Außerdem sind Tierversuche in vielen Bereichen zuverlässiger als andere Methoden.
Absehbar unverzichtbar
Der Direktor des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen, Prof. Dr. Stefan Treue, glaubt deshalb nicht, dass man in absehbarer Zeit komplett auf Tierversuche verzichten kann. "Gerade bei Erkrankungen, die den ganzen Körper betreffen - wie das Immunsystem, Krebs oder das Nervensystem - gehe ich davon aus, dass wir auf absehbare Zeit Tierversuche nicht vollständig ersetzen können", sagt der Primatenforscher, der zugleich Vorsitzender der Initiative "Tierversuche verstehen" ist. In dem Zusammenhang räumt Treue auch mit gängigen Klischees auf. So seien etwa Tierversuche in der Kosmetik schon seit vielen Jahren verboten. Das gleiche gelte seit 1991 auch für Versuche mit Menschenaffen.
Jeder Versuch muss genehmigt werden
Auch der Vorwurf, dass Versuchstiere unter grausamsten Bedingungen gehalten würden, verfängt nicht. Dafür sorgen die strengen deutschen Tierschutzgesetze. Außerdem muss jeder einzelne Tierversuch genehmigt werden. "Der Versuch muss unerlässlich sein, unerlässlich heißt, dass sie die Fragestellung, die sie da beantworten wollen auf keine andere Weise als mit einem Tierversuch beantworten können", erklärt Treue. Außerdem prüfen zuständigen Behörden vor jeder Genehmigung, ob der Versuch dem sogenannten 3R-Grundsatz entspricht: "Replace, Reduce and Refine" - also Vermeiden, Verringern und Verbessern. Dieser Grundsatz soll die Zahl der Versuche begrenzen und das Leid der Tiere auf ein "unerlässliches Maß" verringern.
Silikongitter für 3D-Versuche
Um Tierversuche auch weiterhin verringern zu können, wird deutschlandweit an neuen Methoden geforscht. So versuchen Wissenschaftler schon seit längerem, Tierversuche an einigen Stellen durch Experimente mit menschlichen Zellen zu ersetzen. Bisher geschieht das vorrangig in der Petrischale. Allerdings finden die Versuche dann sozusagen nur auf der 2D-Ebene statt. An der Universität Leipzig arbeiten Wissenschaftler deshalb mit einem Silikongitter. Das kleine weiße Gitter in der Größe einer 2-Euro-Münze, das sich wie ein rauer Schwamm anfühlt, besitzt eine Steifigkeit, die der eines Organs in unserem Körper entspricht. Mit seiner Hilfe sind Versuche an menschlichen Zellen in 3D möglich.
Jede Struktur ist druckbar
Die Biologin Dr. Peggy Stock erklärt, worum es geht: "Die 3D-Modelle haben den Vorteil, dass sie die Situation im Organ abbilden. Unser Körper ist nun mal nicht flach, sondern 3D. Man kann das Silikongitter in jeder Struktur drucken, die man sich vorstellen kann. Man könnte eine Organstruktur drucken und dort drin Zellen, wie etwa Knorpel- oder Hautzellen wachsen lassen." Es gibt unzählige Möglichkeiten. So haben Stock und ihr Team auf dem Silikongitter adulte Stammzellen so beeinflusst, dass sie sich zu Leberzellen entwickelten. Daran könnte man zum Beispiel testen, wie unsere Leber neue Medikamente oder Chemikalien verstoffwechselt. Tests, die man sonst an lebenden Tieren durchführen müsste. Denn um die Risiken für die Menschen zu minimieren, muss jede Charge eines Impfstoffes vor der Anwendung am Menschen an mehreren Versuchstieren getestet werden.
Multiorgan-Chip aus Dresden
Heißt im Umkehrschluss: ohne Tierversuche keine Impfstoffe. Zumindest noch. Denn auch am Fraunhofer Institut für Werkstoff- und Strahltechnik in Dresden arbeiten Wissenschaftler an einer Alternative, dem sogenannten Multiorgan-Chip. In der kleinen Plastikscheibe, die kaum größer als eine Visitenkarte ist, sind verschiedene Kanäle. "Das gleiche haben sie auch in ihrem Körper, wo Blutgefäße auch wie Röhren oder Gefäße sind", erklärt Dr. Udo Klotzbach. In die kleinen Kammern des Multiorgan-Chips können Zellen der einzelnen Organe gelegt werden: Haut, Leber, Niere - ein kleines Abbild unseres Körpers. Durch eine winzige Pumpe werden sie über die haarfeinen Röhrchen mit Blut versorgt. So können die Zellen ungefähr einen Monat überleben. Das ist deutlich länger als in der Petrischale. Damit lassen sich auch Nebenwirkungen von Medikamenten besser untersuchen.
Nur Platz für vier Organe
Doch der Multiorgan-Chip hat natürlich auch Grenzen. Bis jetzt ist auf ihm nur Platz für vier Organe - statt wie in unserem Körper für zehn. Und auch die Komplexität unseres Gehirns lässt sich auf ihm schwer abbilden. Deshalb geht auch Klotzbach davon aus, dass es perspektivisch weiter Tierversuche geben wird: "Aber ich kann mir vorstellen, dass man die Tierversuche reduziert, drastisch reduziert, zumal man die Ergebnisse von Tierversuchen ja auch nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen kann."
Für Medikamententests unverzichtbar
Die schlechte Übertragbarkeit ist auch eines der Haupt-Argumente der Tierversuchsgegner. Tatsächlich besteht beispielsweise bei Menschen und Mäusen ein DNA-Unterschied von drei Prozent. Klingt wenig, macht aber einen großen Unterschied. Und dennoch: Gerade bei Medikamententests – da sind sich Experten einig – liefern Tierversuche immer noch die höchste Erfolgsquote. Davon sind die alternativen Methoden noch weit entfernt.
Das gilt auch für Computer-Simulationen, die heute schon routinemäßig eingesetzt werden, um Medikamententests an Tieren zu ergänzen und die Zahl der Versuchstiere dadurch zu reduzieren. Allerdings benötigen die Simulationen immer Daten, die zuvor bei Tierversuchen erhoben wurden. Zudem sind Computer in ihrer Rechenleistung begrenzt. So programmierten Wissenschaftler der Oxford University beispielsweise ein virtuelles Herz. Da dafür aber Millionen von Differenzialgleichungen gleichzeitig gelöst werden müssen, dauerte es bis zu 30 Stunden, um nur ein paar Schläge des Herzens zu simulieren. Ein enormer Aufwand für sehr wenig Erkenntnis.
Teuerste Experimente überhaupt
Tierversuche werden wohl auch deshalb vorerst weiter ein notwendiges Übel bleiben. Doch die Motivation der Wissenschaftler, Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln und zu nutzen, ist enorm hoch. Dabei spielen auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Denn, was kaum jemand weiß, Tierversuche zählen zu den teuersten Experimenten in der Forschung überhaupt. Sowohl die Beschaffung der Tiere, die Ausbildung des Fachpersonals, die Unterbringung - all das ist deutlich kostspieliger als Alternativmethoden wie Computersimulationen oder Tests an Zellkulturen.
ks/dn
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. Januar 2020 | 05:20 Uhr
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