Mittwoch, 06.11.2024: Die Pfütze
Den ganzen Vormittag hat es geregnet. Überall haben sich Pfützen gebildet. Der Junge mit den blau getupften Gummistiefeln an den Füßen hüpft in eine hinein. Hüpft und hüpft und lacht. Noch eine Pfütze. Und noch eine. Tropfen fliegen nach oben.
Gegenüber ist die Friedhofsmauer mit einem Tor darin. Eine Frau kommt heraus, das Tor quietscht. Der Junge schaut herüber zu ihr. Vorhin war sie mit dem Schirm durch den Regen gelaufen. Das Wetter war ihr gerade recht. "In mir drinnen regnet es seit Wochen", hatte sie vorhin gedacht. Das Wetter hielt viele Leute ab, nach draußen zu gehen. Das war ihr Recht, sie wollte niemandem begegnen.
Sie sieht den Jungen, der zu einem neuen Sprung ansetzt. Die Frau läuft los und will ausweichen, gleich wird es spritzen. Doch dann zögert sie. Und mit einem Mal tritt sie ganz fest mit dem Fuß in die Pfütze. Es spritzt, sie spürt das Wasser, das in den Schuh eindringt. Ein eigentümliches Gefühl!
Die Frau tritt noch einmal in die Pfütze, sie stampft jetzt richtig auf. Hart fühlt sie den Asphalt unter der Sohle. Fast tut es weh. Sie spürt Wut in sich. Was tut sie hier? Und sie stampft und stampft und stampft. Tränen laufen über ihr Gesicht. Schuhe, Strümpfe, Beine und Gesicht - alles ist nass.
Der Junge in den getupften Gummistiefeln steht noch da. Langsam und vorsichtig geht er jetzt weg und macht dabei einen Bogen um die Pfütze und die Frau. Die Pfütze gehört jetzt ihr.
Alles hat seine Zeit, so hat in der Bibel jemand gedichtet. Der kannte das Leben wie wir und war überzeugt: Das Leben ist nicht einfach eine lose Abfolge. Hüpfende Kinder und irgendwann sind sie groß. Trauer hat ihre Zeit und irgendwann ist sie wieder gut. Nein, so einfach ist das nicht. Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden.
Die Pfützen sind übrig vom Regen. Zum Glück hüpfen auch Erwachsene manchmal rein. Wir wissen noch, wie`s geht. Nur die getupften Stiefel, die passen nicht mehr.
Alles hat seine Zeit.
Dienstag, 05.11.2024: Wartezimmergedanken
Ich muss zum Arzt. Es ist nichts Schlimmes, nur ein Kontrolltermin. Ich dachte, da bin ich schnell wieder draußen. Aber das kann ich mir wohl abschminken. Das Wartezimmer ist proppevoll, ich kann froh sein, dass ich noch einen freien Stuhl bekomme. Nun ist Geduld gefragt.
Nach einem tiefen Seufzer lasse ich meinen Blick durch das Wartezimmer schweifen. Da ist eine Mutter, die ein müdes Kleinkind auf dem Schoß hält. Neben ihr sitzt ein älterer Herr, der aufmerksam Zeitung liest. Mir direkt gegenüber wippt eine junge Frau ununterbrochen mit dem Fuß, das macht mich ganz nervös. Aber nicht nur das. In einer Ecke sitzt eine ältere Frau, die in unregelmäßigen Abständen stöhnt und mit dem Kopf schüttelt. Andere vertreiben sich die Zeit an ihrem Handy.
Das ist das, was ich sehe. Aber was geht im Inneren der Menschen vor, mit denen ich hier auf engem Raum Zeit verbringe? Ich kann es nur ahnen. Ich stelle mir vor, hier sitzt die Angst neben der Gelassenheit, die Erleichterung gegenüber der Unsicherheit, die Wut hinter der Hoffnung. Und die Aggression wartet neben der Trauer.
Dieses Zimmer ist voller Emotionen. Hier sitzt niemand, weil ihm langweilig ist. Alle sind hier, weil sie etwas beunruhigt, weil sie Gewissheit haben wollen oder weil etwas nicht in Ordnung ist.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an, so steht es in der Bibel. Das habe ich an diesem Morgen neu verstanden.