Verkündigungssendung Das Wort zum Tag bei MDR SACHSEN | 06. - 12.03.2023
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Täglich hören Sie das Wort zum Tag. Montags bis freitags gegen 5:45 Uhr und 8:50 Uhr, am Sonnabend gegen 8:50 Uhr, sonntags 7:45 Uhr. Das Wort zum Tag sprechen in dieser Woche Frank Seibel, am Sonntag Tobias Petzoldt.
Sonntag, 12.03.2023:
Sonnabend, 11.03.2023: Kunst und das wahre Leben
Ist es ein trauriger Blick? Ein suchender? Ein sehnsüchtiger?
Das Gesicht des Mädchens mit den großen dunklen Augen und dem blau-gelben Tuch auf dem Kopf habe ich in den vergangenen Wochen häufig gesehen. Und so ging es offenbar Millionen von Menschen in vielen Ländern der Welt. "Das Mädchen mit dem Perlen-Ohrring" – so heißt dieses Bild. Gemalt hat es der niederländische Maler Jan Vermeer im Jahr 1665 – vor 350 Jahren!
In Amsterdam ist dieses Mädchen nun für einige Monate der Star einer großen Ausstellung. Es gibt schon jetzt keine Karten mehr.
Woher kommt diese Faszination? Mich berührt an Bildern wie diesem von Jan Vermeer eines ganz besonders: Dass mit hier ein Mensch ganz nahe zu kommen scheint, der vor 350 Jahren gelebt hat. Nicht die Schönheit der Menschen macht für mich den Reiz von Bildern aus jener Epoche aus. Es ist vor allem dies: Ich sehe Menschen, wie ich sie auch heute überall treffen könnte. Ich sehe Freude und Ärger, Güte und Eitelkeit, Stolz und Verzagtheit. Man sagt ja oft, wir leben in schwierigen Zeiten. Aber, he: vor ein paar Jahrhunderten war das Leben gewiss nicht leichter.
Aber die Faszination für Kunst hat noch ganz andere Facetten. Einen ähnlichen Ansturm wie in Amsterdam gab es kürzlich in Frankfurt am Main. Dort wurde eine große Sonderschau mit Bildern von Marc Chagall gezeigt. Auch hier: Auf Wochen hin ausverkauft. Bei Chagall ist es nicht das pralle Alltagsleben, das fasziniert. Bei Chagall schweben Liebende und Musiker wie Engel durch die Lüfte. Die Bilder leuchten in Rot und Blau. Traumbilder. Bei Chagall kommt noch etwas hinzu. Viele seiner Bilder zeigen Motive aus der Bibel; dem Alten Testament. "Irgendwas mit Religion" auf jeden Fall. Es gibt noch immer eine Sehnsucht nach dem echten und dem wahren Leben. Ich glaube, das macht uns Menschen aus. Und es gibt eine Sehnsucht nach so etwas wie Ewigkeit.
Da müssten doch auch die Kirchen eine Chance haben – nicht nur die Museen.
Freitag, 10.03.2023: Herta
Eine kleine Frau mit Blumen. Ausgezeichnet. Umringt von Männern in Anzug und Krawatte. So stand Herta Müller kürzlich auf der Bühne im Kulturforum Görlitzer Synagoge. Den Brückepreis der Europastadt hat sie soeben entgegen genommen. Seit 30 Jahren wird dieser Preis an Persönlichkeiten vergeben, die sich besonders verdient gemacht haben für Versöhnung, Frieden und Freiheit in Europa.
"Nicht ich bekomme diesen Preis. Es sind nur meine Texte." So kommentierte Herta Müller einst den Literaturnobelpreis. Den hat die Dichterin 2009 erhalten. Sie macht keine großen Worte. Knapp, klar, präzise sind ihre Sätze. Und dabei doch sinnlich und schön. Mit ihrer Sprache durchbricht sie Mauern. Bewegend ist ihre Dankesrede nach der Preisverleihung. Das heißt: Eine Rede ist es gar nicht. Eine kleine Lesung aus einem ihrer Bücher. Sie erzählt von der Diktatur. Das war in Rumänien zur Zeit Ceaucescus.
Der Text handelt vom Ausgeliefertsein - und von der Auflehnung dagegen. Eine junge Frau wird immer wieder zum Verhör bestellt. Willkür. Das Verhör wird immer vom selben Offizier der Geheimpolizei geführt. Aus der Ich-Perspektive beschreibt die Erzählerin ihre Furcht und ihre wilde Entschlossenheit. Sie verteidigt ihre Würde.
Mir geht eine Szene aus dieser Schilderung nicht aus dem Kopf: Die Hand des Offiziers fährt zur Schulter der Frau und nimmt zwischen Daumen und Zeigefinger ein Haar auf. Die Frau herrscht ihn an: Das ist mein Haar! Der Offizier legt das Haar zurück auf die Schulter der Frau.
250 haben zugehört an diesem Abend. Es war ganz still in der ehemaligen Synagoge. Anspannung und Betroffenheit. Ich habe nie in einer Diktatur leben müssen. Aber die wenigen Sätze von Herta Müller haben in mir ein Gefühl aufkommen lassen: So muss sich Unfreiheit anfühlen. Und ich muss an die Menschen in der Ukraine denken. Seit einem Jahr wehren sie sich gegen die Unterwerfung; gegen die Diktatur des großen Nachbarn. Viele Menschen in Sachsen sagen: Sie sollten sich nicht wehren; damit endlich Frieden wird.
Aber was wäre das für ein Frieden:
- Ständig Furcht vor
- Willkür
- Verhaftung
- Gewalt
- Demütigung
Ich fürchte: Wenn wir diese Art von Frieden fordern, dann sagen wir vor allem: Lass mir meinen Frieden. Lass mich in Ruhe. Das kann nicht mein Credo als Christ sein.