Debatte Wehrpflicht oder nicht? – Wie der Krieg in der Ukraine die Gewissensfrage unter Christen neu stellt
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13. September 2024, 04:00 Uhr
Die Wehrpflicht schien hierzulande lange ein Fall für das Geschichtsbuch zu sein - der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine änderte auch das. Nun kreisen politische Debatten um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Christen haben heute ganz unterschiedliche Antworten bei der Debatte.
Georg Frenzel ist mit dem Fahrrad oft auf Dresdens Straße als Kurier unterwegs. Dass er Gewalt ablehnt, hat auch damit zu tun. Er erlebe sie jeden Tag auf der Straße: "Das ist eine andere Gewalt als die in einem Krieg, das ist klar. Aber trotzdem lehne ich Gewalt grundlegend ab. Und deswegen habe ich meine Probleme mit dem Kriegsdienst", erklärt der Dresdner.
Georg Frenzel ist auch Lokführer. Schon kurz nach seiner Lehre vor 17 Jahren hat er den Wehrdienst verweigert – lange vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Und vor Russlands Überfall auf die Ukraine. Georg Frenzel ist evangelischer Christ – an seiner Haltung hat sich seitdem nichts geändert.
"Es ist unglaublich traurig, dass es jetzt auf europäischem Boden wieder notwendig ist, dass sich ein Land gegen ein anderes, aggressives Land verteidigen muss. Und ja: Auch mit Gewalt, mit Waffengewalt. Aber deswegen ändert sich an meiner Grundüberzeugung nichts, dass es an sich verabscheuungswürdig ist, und wir Menschen eigentlich viel friedfertiger miteinander umgehen sollten", meint Frenzel.
Auch der Landesschutz ist wichtig
Martin Hinrichs ist der Überzeugung, "dass zur christlichen Nächstenliebe auch der Schutz der Bedürftigen zählt, und auch dort wird die Bundeswehr aktiv".
Für Martin Hinrichs sind das nicht nur Worte. Einige Wochen im Jahr ist der katholisch getaufte IT-Berater und Familienvater in Uniform im Einsatz – als Oberstleutnant der Reserve.
Seine Motivation ist ganz klar: "Ich lebe gern in Deutschland. Und ich denke, dass man sich da engagieren und das Land auch schützen muss", so der Katholik.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Krieg und Landesverteidigung nicht länger nur theoretische Möglichkeiten. Seither steigt auch der Bedarf an Beratung in diesen Gewissensfragen wieder, spüren die Friedensbeauftragten der evangelischen Kirchen deutschlandweit.
Debatten alarmieren viele Menschen
Maria Schiffels, Friedensbeauftragte der sächsischen Landeskirche beobachtet einen massiven Anstieg von Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung, vor allem bei Reservisten und Ungedienten. Neue Debatten um "Kriegstüchtigkeit" und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht alarmieren offenbar viele Menschen – auch junge, für die Wehrpflicht bisher ein Fossil aus dem Geschichtsbuch war.
Sie nimmt an, dass der Beratungsbedarf noch weiter steigen wird.
Die Begleitung und der Schutz von Menschen, die den Kriegsdienst verweigern, gehört zu den grundlegenden friedensethischen Aufgaben der Kirche.
Die Wehrpflicht ist seit 2011 zwar ausgesetzt. Im Verteidigungsfall aber kann die Bundeswehr Männer bis zum 60. Lebensjahr einberufen - wenn sie nicht den Kriegsdienst aus Gewissensgründen mit Verweis auf den Grundgesetz-Artikel 4 verweigern.
Der Rechtsanwalt Stefan Heinemann hat ungezählte Männer in München und Dresden bei dieser Entscheidung begleitet. Er weißt darauf hin, dass eine Kriegsdienst-Verweigerung zeitlebens gilt.
Im Ernstfall unterschiedliche Entscheidungen
Wie Verteidigung im Ernstfall aussehen könnte – dazu haben der Reservist Martin Hinrichs und der Pazifist Georg Frenzel ganz unterschiedliche Antworten. Für beide wäre es eine Gewissensentscheidung.
Ich denke, grundsätzlich hat jeder die Pflicht, etwas für sein Land zu tun. Ob es nun mit der Waffe sein muss, das ist eine Gewissensentscheidung, die jeder für sich treffen muss.
Ich würde auch wieder verweigern. Ich würde versuchen, mich anderweitig in die Gesellschaft einzubringen als mit der Waffe an der Grenze.
Im Verteidigungsfall würde Martin Hinrichs seine Uniform anziehen. Georg Frenzel sieht dann seinen Platz in seinem Beruf als Lokführer.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 29. September 2024 | 09:15 Uhr