
Schabbat Schalom | 18.05.2025 Rabbinerin Esther Jonas-Märtin: Der Wochenabschnitt zu Pessach
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20. Februar 2025, 15:03 Uhr
Pessach zu feiern heißt, sich immer wieder neu die Frage zu stellen, was Freiheit bedeutet. Denn Freiheit ist keineswegs selbstverständlich. Immer wieder muss sie neu erdacht und erkämpft werden, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts zu Pessach.
Seit dem 12.April feiern Juden in aller Welt Pessach, das dieses Wochenende zu Ende geht. Acht Tage lang verzichten wir auf Gesäuertes und auf Vergorenes aller Art, wie Brot oder andere Erzeugnisse aus Getreide.
Die wesentliche Mitzwa besteht aber darin, am Seder teilzunehmen und diesem jahrhundertealten Ritual jedes Jahr wieder neues Leben einzuhauchen; jedes Jahr wieder die Frage zu beantworten, was Freiheit ist, worin Freiheit für uns heute besteht.
Jeder Mensch soll sich dabei so fühlen, als wäre der Exodus, der Auszug aus der Sklaverei in Ägypten, die eigene Geschichte, die eigene Reise von der Unfreiheit zur Freiheit.
Es ist also nicht nur die Teilnahme an einem Ritual, es ist vor allem ein Teilhaben, ein Sich-Auseinandersetzen und ein Sich-Hineinfühlen, es ist eine Übung in Empathie und eine Übung, für sich selbst und mit anderen darüber nachzudenken, was Freiheit ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Freiheit für selbstverständlich genommen wird. Allerdings haben viel zu viele vergessen, dass Freiheit immer wieder neu erdacht und immer wieder auch neu erkämpft werden muss.
Wir sind keine Sklaven mehr, aber es gibt heutzutage ebenfalls Zwänge, die uns binden, die uns unserer Freiheit berauben; oft ohne dass wir es bemerken. 24/7 via Telefon oder Internet erreichbar sein zu müssen, ist eine Form von Unfreiheit, weil es letztlich nichts anderes bedeutet als zu erklären, dass man rund um die Uhr für jemanden oder etwas anderes verfügbar ist und damit eben nicht mehr selbst über die eigene Lebenszeit bestimmt.
Wir reisen inzwischen innerhalb kürzester Zeit von A nach B, wir können dank immer mehr Technik immer mehr Zeit sparen, aber was tun wir dann mit der eingesparten Zeit?
Nutzen wir diese Zeit für uns selbst oder für Dinge, die uns wirklich wichtig sind? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die eingesparte Zeit nur dazu dient, in immer weniger Zeit immer mehr zu schaffen? Stell dir vor, es ist Freiheit und keiner geht hin, weil keiner sich die Zeit dafür nimmt.
Freiheit ist ein durchaus schwieriger Begriff und eine Idee, die missbraucht werden kann. Doch eigentlich ist es ganz einfach: Die eigene Freiheit hört genau dort auf, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Eine einfache Regel, die wir nicht früh genug lernen und an die nächste Generation weitergeben können.
In jüdischer Tradition besteht das Hauptmerkmal menschlicher Freiheit darin, selbst zu bestimmen, was mit der eigenen Lebenszeit geschieht. Unsere Lebenszeit und unsere Macht darüber wird mit einem Ritual am zweiten Sederabend markiert.
Wir beginnen am zweiten Sederabend damit, die Tage zu zählen. Wir zählen sieben mal sieben Tage, also sieben Wochen lang zählen wir jeden Tag. Wir zählen 49 Tage plus einen Tag, und dann feiern wir Schawuot, das Wochenfest. Das Fest, das an die Gabe der Tora am Berg Sinai erinnert.
Die Tora aber ist nichts anderes als die erste jüdische Verfassung, das erste jüdische Grundgesetz. Ein eigenes Gesetz können sich ebenfalls nur die Menschen geben, die frei sind.
In unserem Alltag ist es ganz einfach, vor lauter Arbeit, Terminen, Handynachrichten oder virtuellen Medienangeboten genau das aus den Augen zu verlieren, was für unser freies Leben in der sogenannten westlichen Welt die Basis ist: Die grundsätzliche Freiheit selbst zu entscheiden, wie wir die Zeit, die uns gegeben ist, füllen.
Wenn man Sterbende fragt, was sie am meisten bereuen, dann geht es nicht darum, zu wenig gepostet zu haben, sondern an erster Stelle steht das Bedauern darüber, nicht den Mut gehabt zu haben, das eigene Leben zu leben. Sondern so gelebt zu haben, wie sich das andere vorgestellt hatten.
Gleich danach kommt das Bedauern darüber, den eigenen Träumen nicht gefolgt zu sein. Sich verbogen zu haben, um anderen zu gefallen. Zu selten "Ich liebe Dich" gesagt und auch Freundschaften nicht gepflegt zu haben, stehen ebenfalls ganz weit oben auf dieser Liste des Bedauerns. Eine Erkenntnis, die am Ende des Lebens zu spät kommt, jedoch nicht zu spät aber für jene, die diese Liste kennen. Sie haben die Chance etwas zu verändern.
Wie verbringen Sie Ihren Alltag? Was planen Sie für Ihren Urlaub? Und last but not least: Wann verbringen Sie Zeit mit anderen Menschen?
Nutzen Sie die Freiheit, die Sie haben, für das, was wirklich zählt, für das, was Ihrem Herzen und Ihrer Seele Frieden bringt. Für die Zeit, die Sie sich nehmen, um zu träumen oder in die Wolken zu schauen. Geschichten zu erfinden oder sie zu erzählen.
An Pessach erzählen wir uns die Geschichte von der langen Reise aus der Sklaverei in die Freiheit, und zum Schabbat erinnern wir uns daran, dass wir Pausen brauchen und daran, dass sich die Welt auch ohne uns weiterdreht. Aber, und das sollten wir nicht vergessen: Wir Menschen haben das Geschenk der Freiheit bekommen. Achten Sie gut auf dieses Geschenk und hüten Sie es wie einen Schatz!
Schabbat Schalom!
Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin
Esther Jonas-Märtin absolvierte Jüdische Studien, studierte Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.
2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.
Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. April 2025 | 15:45 Uhr