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Rabbinerin Esther Jonas-Märtin 4 min
Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Bildrechte: MDR/ Michaela Weber

Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Tetzaweh - Wie weiß man, was richtig ist?

22. Dezember 2023, 13:40 Uhr

Niemand kann von sich behaupten, die alleinige Wahrheit zu kennen. Deshalb ist es wichtig, für sich selbst das Richtige herauszufinden. Aber auch, andere in ihrer Wahrheit stehen zu lassen, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Tetzaweh".

Unser Text diese Woche dreht sich um weitere Details des Tempels. Zunächst die Festlegung der Beschaffenheit des Öls für die Lampen und auch des Öls für das Ner Tamid, das ewige Licht, das an die ewige Gegenwart G’ttes erinnert.

Dann wechselt der Fokus auf das Tempelpersonal, Aaron und seine Söhne sollen Priester sein, auch dafür wird besonderes Öl benötigt, um die Priesterschaft zu besiegeln. Mehr als das werden jedoch besondere Utensilien und Kleidung benötigt: "Und du sollst heilige Kleidung für Aaron und seine Söhne anfertigen zur Würde und Erhabenheit G’ttes." (Exodus 28:2)

Die Kleidung des Hohepriesters besteht aus acht Bestandteilen, dazu gehören zwölf verschiedenfarbige Steine auf dem Brustschild, die sich nochmal auf den Schulterapplikationen wiederholen.

Ein geheimnisvolles Werkzeug

Diese zwölf Steine stehen symbolisch für die zwölf Stämme Israels mit ihrem jeweils eigenen Charakter und ihrer Diversität, die der Hohepriester bewahren und schützen soll. Doch ein Bestandteil der priesterlichen Ausstattung ist besonders geheimnisvoll. Es handelt sich um die Urim ve’Tummim, eine Art Werkzeug, womit der Hohepriester den Willen Gottes bestimmen konnte.

Der Hohepriester sollte die beiden Werkzeuge hinter dem Brustschild tragen, also direkt über seinem Herzen, um mit Licht und Ganzheit, das bedeuten die Namen Urim ve’Tummim übersetzt, von G’tt genaue Antworten zu bekommen. Zur Zeit des Ersten Tempels waren die Urim ve’Tummim die Garantie dafür, dass die Menschen im Einklang mit dem Willen G’ttes lebten und handelten.

In jeder Generation gibt es Menschen, die absolut sicher sind zu wissen, was richtig ist. Sie sind dann nicht nur für sich selbst sicher, sondern versuchen auch, andere davon zu überzeugen, dass nur ihre Sichtweise die richtige ist. Oftmals grenzen diese Menschen dann anders lebende Menschen aus, weil sie jede andere Lebensweise als Angriff auf das eigene auffassen.

Stellen Sie sich vor, Sie wüssten ganz genau, was zu tun, welche Entscheidung die richtige ist, welchen Weg Sie einschlagen werden? Keine Zweifel, keine Kompromisse und keine Diskussionen. Welche Sicherheit würde es Ihnen und den Ihren geben? Wie verlockend wäre das?

Nun, mit dem Beginn der Periode des Zweiten Tempels sind die Urim ve’Tummim verschwunden. Vorbei die Zeiten, in denen Unsicherheit und Zweifel einfach ausgeschlossen werden konnten. Die religiöse Folge davon ist, dass nachbiblisches Judentum nicht mehr auf die explizite Kommunikation mit G’tt verweisen kann, also auch keinen Anspruch mehr erheben kann auf ultimatives Wissen um die Wahrheit oder eben den Willen G’ttes.

Niemand besitzt die alleinige Wahrheit

Jede Generation, und genau genommen jede und jeder einzelne, hat vier verschiedene Wege, vier Quellen, um für sich herauszufinden, was das richtige ist: 1. Traditionen, wie Gebote und Bräuche, 2. Schriften, wie die Hebräische Bibel, 3. die Welt um uns herum und 4. die kleine zarte Stimme in uns selbst.

Diese vier Wege bieten Einsichten und Möglichkeiten, die wir bewusst filtern und nach denen wir unsere Entscheidungen treffen. Gleichzeitig sind unser Erleben, unser Verständnis und unsere Möglichkeiten so unterschiedlich, dass niemand von sich behaupten kann, die alleinige Wahrheit zu kennen.

Andere Wege akzeptieren

Anstatt einander die Berechtigung abzusprechen und uns abzugrenzen, sollten wir voneinander lernen - und vielleicht sind die Urim ve’Tummim ja genau deshalb verloren gegangen, damit wir uns unserer selbst nicht zu sicher sind?

Vielleicht fehlt uns allen ein Stück Bescheidenheit, um nicht nur für uns selbst das richtige herauszufinden, sondern genau deshalb auch andere in ihrer Wahrheit stehen lassen zu können.

In diesem Sinne: Seien Sie wach, lauschen Sie der Welt und sich selbst!

Mögen Sie dabei das finden, was für Sie wahr und richtig ist. Und beinahe noch wichtiger: Mögen Sie anderen zugestehen, dass sie ebenfalls das finden, was für sie wahr und richtig ist.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 23. Februar 2024 | 15:45 Uhr