MDR Kultur | 29.11.2024 | Wochenabschnitt "Toldot" Schabbat Schalom mit Rabbiner Elischa Portnoy: "Kinder sind nicht dazu da, um den Eltern Spaß zu machen"
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11. Juli 2024, 15:51 Uhr
Jedes Kind hat seine eigene göttliche Aufgabe in dieser Welt. Und die Eltern sollen jedes Kind fördern, damit es seine Mission verwirklichen kann, meint der Hallenser Rabbiner Elischa Portnoy in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Toldot".
Im Wochenabschnitt "Toldot" (Nachkommen), den wir an diesem Schabbat lesen, wird weiter vom Leben und Handeln unserer großen Vorväter und Vormütter erzählt. Doch wie wir schon mehrmals betont haben, ist die Tora kein Geschichtsbuch. Die Tora ist der "Baum des Lebens". Alles, was dort steht, ist gültig für alle Menschen in allen Generationen. Deshalb gibt es auch in unserem Wochenabschnitt wichtige Lehren, die für alle Menschen hilfreich sind.
So wird im Wochenabschnitt "Toldot" über die Kinder von Jitzhak und Rivka erzählt. Jitzhak und Rivka, die im vorherigen Wochenabschnitt geheiraten haben, hatten sehr lange Zeit keine Kinder.
Zwanzig Jahre lang beteten sie und hofften auf ein Geschenk von G’tt. Und, endlich ist Rivka schwanger! Doch die Freude der jungen Frau dauert nicht lange – ihre Schwangerschaft wird kompliziert. Die Tora beschreibt es so: "Als aber die Kinder sich stießen in ihrem Leibe, da sprach sie: Wenn dem so, wozu bin ich dies? Und sie ging, um G‘tt zu befragen."
"Zwei Völker sind in deinem Leibe"
Rivka hat relativ schnell verstanden, dass die Probleme mit den Stößen in ihrem Bauch nicht medizinischer, sondern spiritueller Natur sind. Unsere Weisen berichten, dass Rivka, wenn sie an einem Lehrhaus vorbeiging, plötzlich diese Stöße spürte und ebenso, wenn sie an einem Götzendienst-Tempel vorbeiging. Um die Bedeutung dieses merkwürdigen und beunruhigenden Verhaltens zu klären, ging sie zu den Propheten jener Zeit, Schem und Ewer. Und die Antwort der Propheten war: "Zwei Völker sind in deinem Leibe … zwei Stämme aus deinem Schoße werden sich scheiden; und ein Stamm wird mächtiger als der andere, und der ältere wird dienen dem jüngeren."
Die Botschaft, die Rivka von den Propheten bekommen hat, war eindeutig: Sie wird Zwillinge bekommen, die grundverschieden sind. Das wurde zur Realität: Einer der Zwillinge war Jakob – ein ruhiges, höfliches und gern lernendes Kind. Der andere Zwilling war Esaw, eher grob und unruhig, der immer auf den Straßen herumlief und gefährliche Abenteuer suchte.
Kinder sind verschieden
Rivka hat jedoch noch eine subtile Botschaft bekommen, und diese Botschaft ist für viele Eltern heute sehr wichtig. Es ist klar und bekannt, dass jedes Kind entsprechend seinem Charakter und seinen Veranlagungen erzogen werden muss. Eine andere, viel wichtigere Information für die werdende Mutter war, dass Kinder auch ziemlich herausfordernd sein können. Das kennen viele Familien mit mehreren Geschwistern: Während einige Kinder ruhig, hilfsbereit und unkompliziert sind, gibt es immer ein Kind das anders ist: sehr lebhaft, kann keine zwei Minuten auf dem Stuhl sitzen, rennt herum und sucht nach spannender Beschäftigung. Bleibt es nur halbe Stunde ohne Aufsicht, schafft es, mit dem teuren Lippenstift die neue Bettwäsche zu bemalen, die ganze Zahnpaste aus der Tube ins Waschbecken auszudrücken oder mit der gefundenen Schere Buchseiten auszuschneiden.
Doch wir müssen ganz klar verstehen, dass Kinder nicht da sind, um den Eltern Spaß zu machen. Jedes Kind hat eine bestimmte G’tliche Aufgabe in dieser Welt, und die Eltern sollen jedes Kind fördern, um ihm zu helfen, seine Mission zu verwirklichen. Genau das hat Rivka verstanden, nachdem Auffälligkeiten aufgetreten waren: Sie wird wahrscheinlich ein schwieriges Kind bekommen.
Die Aufgabe der Eltern ist es, dem Kind zu helfen
Wie schaffte sie es, als unerfahrene Mutter die neue Aufgabe zu meistern? Die Antwort der Propheten war: "Zwei Völker sind in deinem Inneren…." Jeder Mensch hat zwei Triebe, einen guten, angenehmen, und einen bösen, zerstörerischen. Die Aufgabe der Eltern ist es, dem Kind zu helfen, seinen guten Trieb zu stärken und den bösen zu unterdrücken. Diese Aufgabe ist kein Selbstläufer, sie erfordert viel Zeit, viel Mühe, viel Aufwand. Man kann dem Kind Lesen, Malen, Basteln und Spielen beibringen. Das macht Spaß, und bereitet es gut auf das Erwachsenen-Leben vor. Und vor allem: Lässt es ihm keine Zeit, Geschwister zu provozieren oder die Wohnung bzw. das Klassenzimmer zu zerstören.
Mit Esaw, dem "schwierigen" Sohn von Jitzhak und Rivka, hat das leider nicht geklappt. Trotz aller Mühen hat er den guten Weg verlassen, als er fünfzehn war. Und doch, als er erwachsen wurde, hat die gute Erziehung gewirkt, und Esaw hat sich in einer kritischen Situation zurückgehalten. Darüber werden wir aber erst in zwei Wochen lesen.
Schabbat Schalom!
Zur Person: Rabbiner Elischa M. Portnoy
Rabbiner Elischa M. Portnoy wurde 1977 in Nikolaew in der Ukraine geboren. Seit 1997 lebt er in Deutschland. 2007 erwarb er sein Diplom als Ingenieur für Elektrotechnik an der TU Berlin. 2012 schloss er seine Ausbildung am Rabbinerseminar in Berlin ab und erhielt die Smicha.
Elischa M. Portnoy arbeitet als Militärrabbiner der Bundeswehr am Standort Leipzig und betreut die Jüdische Gemeinde in Halle / Saale. Er ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD). Er ist verheiratet mit Rebbetzin Katia Novominski und Vater von vier Söhnen.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 29. November 2024 | 15:45 Uhr