MDR Kultur | 13.09.2024 | Wochenabschnitts "Ki Teze" Schabbat Schalom mit Rabbiner Daniel Fabian: Liebe ist nicht genug
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14. Juni 2024, 10:48 Uhr
Liebe ist etwas Großartiges: sie lässt Menschen über sich hinauswachsen. Aber Liebe allein reicht nicht aus. Es muss auch Gerechtigkeit und Fairness geben, damit eine Gesellschaft gedeihen kann, meint der Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt, Daniel Fabian, in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Ki Teze".
In der Antike war es in diversen Kulturen üblich, dass ein Mann mit mehr als einer Frau verheiratet sein konnte. Auch gemäß biblischen Rechts war dies gestattet. Die Praxis der Vielehe im Judentum endete Mitte des 11. Jahrhunderts. Es war ebenso immer üblich, dass der Erstgeborene einen zweifachen Anteil am Familienerbe erhielt.
Die Tora beschreibt im Wochenabschnitt "Ki Teze" eine ungewöhnliche und dysfunktionale familiäre Konstellation: Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine, die er hasst, und beide haben ihm Söhne geboren, der erstgeborene Sohn ist aber von der gehassten Frau, so darf er am Tage, an dem er an seine Söhne verteilt, was ihm gehört, nicht dem Sohn der geliebten das Erstgeburtsrecht verleihen…
Rabbiner Jonathan Sacks weist uns darauf hin, dass wir in Genesis einen Präzedenzfall haben, bei dem scheinbar genau diese Regel nicht befolgt wurde.
Die Tora erzählt uns die Geschichte von Jakob und seinen zwei Frauen, Rachel und Leah. Aufgrund des Betrugs seines Schwiegervaters Lavan wurde Jakob irrtümlich mit Leah verheiratet, obwohl seine Liebe ihrer jüngeren Schwester Rachel galt. In Gegenleistung zu sieben Jahren Dienst im Hause Lavans durfte er schließlich auch Rachel heiraten.
Aus der Ehe mit Leah gingen mehrere Kinder hervor, deren Erstgeborener Reuven war. Wir stellen jedoch fest, dass Reuven nicht den rechtmäßigen doppelten Anteil des Erbes von Jakob erhielt.
Vielmehr war es Josef, der erste Sohn seiner geliebten Frau Rachel, der einen zweifachen Anteil als Erbbesitz des Landes Israel erhielt, und der schließlich auf seine beiden Söhne Ephraim und Menashe verteilt wurde. Es hat den Anschein, dass der Stammvater Jakob sich selbst nicht an die Regeln hielt und Rachels Sohn bevorzugte.
Obwohl die Kommentatoren der Tora verschiedene Antworten auf diese Geschichte parat haben, gefällt mir der innovative Kommentar von Rabbiner Sacks am besten.
Liebe ist unheimlich wichtig. Liebe bringt Menschen zusammen und lässt sie Großartiges erreichen. Liebe befähigt uns, über uns selbst hinauszuwachsen und die Bedürfnisse der anderen Person vor unsere eigenen zu stellen.
Aber Liebe ist auch unberechenbar und zuweilen chaotisch. Es ist ein Gefühl, eine Emotion; und Emotionen sind nicht immer gute Ratgeber. Man kann mit Liebe alleine keine Gesellschaft aufbauen.
Die Tora ist ein ungewöhnliches Werk, welches nicht nur die biblische Geschichte, sondern auch die Gesetze des jüdischen Rechts enthält. Die Tora zeigt auf der einen Seite, was geschehen ist, und andererseits, was wir tun und was wir lassen sollen.
Die Geschichte von Jakob und seinen zwei Frauen zeigt uns, wo eine Bevorzugung hinführen kann. Josef, der Lieblingssohn, wurde deshalb beinahe von seinen Brüdern umgebracht und am Ende in die Sklaverei verkauft.
Jakob handelte aus Liebe. Er war überwältigt von seiner Liebe Rachel gegenüber. Aber Liebe ist nicht genug. Es muss auch Gerechtigkeit, Fairness und eine unbefangene Anwendung von Recht geben. Nur in einer Kombination aus beiden kann eine Gesellschaft gedeihen.
Schabbat Schalom!
Zur Person: Daniel Fabian Der Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt wurde 1974 in Israel geboren und wuchs in Deutschland auf. Ein Studium der Biologie schloss er mit einem Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Von 2007 an war Daniel Fabian einer der ersten Studenten am Rabbinerseminar zu Berlin. Die feierliche Ordination zum orthodoxen Rabbiner erfolgte im Jahr 2011. Bereits während seines Studiums hatte Fabian in jüdischen Bildungseinrichtungen unterrichtet, ab 2011 übernahm er verschiedene Leitungsfunktionen in der Stiftung Lauder Yeshurun. 2021 wurde Fabian Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt, seit 2022 nimmt er dort auch die Aufgabe des Polizeirabbiners wahr. Daniel Fabian ist verheiratet und hat fünf Kinder.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 13. September 2024 | 15:45 Uhr