MDR Kultur | 13.12.2024 | Wochenabschnitt "Vayishlach" Schabbat Schalom mit Rabbiner Daniel Fabian: Wie ankommen in einer neuen Heimat?
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13. Dezember 2024, 13:48 Uhr
Wie lässt sich mit neuen und stressigen Situationen umgehen? Wie ist das Ankommen an einem neuen fremden Ort möglich? Am besten, indem wir uns aktiv einbringen, um so die Lage zu verbessern, meint der Magdeburger Rabbiner Daniel Fabian in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Vayishlach".
Es gibt Studien, die besagen, dass Umzüge zu den stressigsten Erfahrungen gehören, die ein Mensch im Laufe seines Lebens durchmacht. Dies gilt umso mehr dann, wenn ein Mensch nicht nur innerhalb der Stadt umzieht, sondern den Wohnsitz in eine andere Stadt, oder womöglich sogar in ein anderes Land verlagert. Manchmal kommt noch hinzu, dass die Umstände, die einen Menschen dazu veranlassen, den Wohnsitz zu ändern, nicht unbedingt angenehmer Natur sind.
Jakob flieht vor seinem Bruder Esav
In solchen Umständen findet sich der Stammvater des jüdischen Volkes Jakob im dieswöchigen Wochenabschnitt der Tora, Vayishlach, wieder. Zunächst verweilt Jakob zwanzig Jahre im Hause seines Schwiegervaters Lavan, der ihm in dieser Zeit zahlreiche Male übel mitspielt und immer wieder versucht, ihn zu betrügen. Dann muss Jakob vor seinem Bruder Esav fliehen, der ihn verfolgt und ihm nach dem Leben trachtet, weil dieser ihm das Erstgeborenenrecht streitig gemacht hatte. Nachdem Esav sich ihm annähert, und die beiden ihre Differenzen mehr oder weniger beilegen können, möchte sich Jakob dennoch nicht in unmittelbarer Nähe zu seinem Bruder niederlassen. Eine neue Heimat muss gefunden werden.
Schließlich entscheidet sich Jakob dafür, sich in der kaananitischen Stadt Sch’chem niederzulassen. Die Tora beschreibt Jakobs Ortswahl mit den Worten: Jakob lagerte gegenüber der Stadt.
Ankommen in einer neuen Heimat
Der Talmud im Traktat Schabbat greift den etwas außergewöhnlichen Umstand auf, dass Jakob sein Quartier nicht in der Stadt, sondern außerhalb der Stadt bezog. Die hebräische Wortkonstruktion, welche Jakobs Lager außerhalb der Stadt beschreibt, wird vom Talmud anders verstanden als die Standardübersetzung. Das Wort Vayichan, "er lagerte", hat nämlich im Hebräischen noch eine weitere Bedeutung: Er verschönerte. Der Talmud schreibt, dass Jakob die Stadt Sch’chem mit drei Innovationen bereicherte und sie dadurch verschönerte: Er führte ein Bezahlsystem basierend auf Münzen ein, er baute Marktplätze, und er errichtete Badehäuser.
Obwohl die Kommentatoren sich nicht ganz darüber einig sind, ob Jakob diese wirtschaftlichen und hygienischen Maßnahmen in der Stadt als Innovationen einführte, oder ob er die bereits vorhandene Infrastruktur lediglich verbesserte, so ist der wesentliche Punkt meiner Meinung nach jedoch ein anderer.
Sich Einbringen hilft
Es scheint mir, dass Jakob mit seinem Verhalten ein Beispiel setzt, wie eine Person mit neuen und herausfordernden Situationen wie beispielsweise einem Umzug in eine neue Stadt umgehen kann. Statt sich von den Umständen, die ihn dahin gebracht haben, und der neuen und ungewohnten Umgebung überwältigen zu lassen, wählt er eine sehr konstruktive und positive Herangehensweise: Wie kann ich hier helfen und etwas beitragen? Was kann ich tun, damit dieser Ort noch schöner wird und die Menschen sich hier wohlfühlen? Wie kann ich die Lehren aus dem, was ich erleben und erdulden musste, nutzen, um meine Umgebung zu verbessern?
Dieser Ansatz ist nicht nur selbstlos. Er ermöglicht Jakob auch, mit seinem Trauma umzugehen und, indem er anderen hilft und für sie da ist, das Erfahrene für sich in einen Kontext zu setzen, in dem er selbst wachsen kann. Ich denke, dass diese Strategie durchaus etwas ist, was viele von uns sich für ihr eigenes Leben abschauen können.
Schabbat Schalom!
Zur Person: Daniel Fabian Der Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt wurde 1974 in Israel geboren und wuchs in Deutschland auf. Ein Studium der Biologie schloss er mit einem Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Von 2007 an war Daniel Fabian einer der ersten Studenten am Rabbinerseminar zu Berlin. Die feierliche Ordination zum orthodoxen Rabbiner erfolgte im Jahr 2011. Bereits während seines Studiums hatte Fabian in jüdischen Bildungseinrichtungen unterrichtet, ab 2011 übernahm er verschiedene Leitungsfunktionen in der Stiftung Lauder Yeshurun. 2021 wurde Fabian Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt, seit 2022 nimmt er dort auch die Aufgabe des Polizeirabbiners wahr. Daniel Fabian ist verheiratet und hat fünf Kinder.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 13. Dezember 2024 | 15:45 Uhr