Schabbat Schalom | MDR Kultur | 06.09.2024 Wochenabschnitt "Schoftim": Nicht gleichgültig gegenüber dem Unrecht bleiben
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02. August 2024, 11:00 Uhr
Es ist bequem wegzuschauen, wenn einen das Unrecht nicht selbst betrifft. Aber: so ungerecht wie unser Nächster heute behandelt wird, so ungerecht könnten auch wir morgen behandelt werden, meint Rabbiner Alexander Nachama in seiner Auslegung des Wochenabschnitts Schoftim.
Einst erzählte man dem berühmten Rabbi Soloweitschik aus Brisk, dass in einem kleinen Städtchen ein Richter des Rabbinatsgerichts Bestechungsgelder annehme, ihn dennoch die Strafe der Erblindung bisher nicht getroffen habe. Wie das sein könne? Es heiße doch in der Tora: "Denn Bestechung macht weise Leute blind."
Rabbi Soloweitschik antwortete: "Ich kenne diesen Rabbiner sehr gut, kann ihn aber beim besten Willen nicht als weise bezeichnen, denn wäre er weise, so würde er sich doch nicht bestechen lassen."
Im Wochenabschnitt Schoftim lesen wir: "Du sollst das Recht nicht beugen, kein Ansehen der Person achten und keine Bestechung annehmen, denn die Bestechung macht weise Leute blind und verkehrt die Worte der Gerechten."
Das Verbot der Bestechung wendet sich nicht nur an Richter und Beamte, sondern an alle. Schließlich wird später, in Kapitel 27, allgemein festgehalten: "Verflucht sei, wer Bestechung nimmt."
Bestechung wird unmissverständlich verboten, die Tora strebt nach Gerechtigkeit, wie es im Wochenabschnitt heißt: "Zedek, zedek tirdof" – "Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachtrachten."
Es fällt auf, dass das Wort Gerechtigkeit ("Zedek") gleich zwei Mal hintereinander genannt wird. Wie es im Talmud heißt, bezieht sich die doppelte Nennung einerseits auf das richterliche Urteil und andererseits auf außergerichtliche Absprachen – auch diese sollen von Gerechtigkeit bestimmt sein.
Aber nicht nur das: Wir sollen uns um Gerechtigkeit bemühen, unabhängig davon, ob wir selbst betroffen sind oder nicht. Wir sollen keinem Unrecht gegenüber gleichgültig bleiben. Denn das könnte dazu führen, dass wir das Ungerechte verteidigen, um unser eigenes Gewissen zu beruhigen.
Zudem wissen wir: So ungerecht wie unser Nächster oder unsere Nächste heute behandelt wird, so ungerecht könnten auch wir morgen behandelt werden.
Jedoch sollte Gerechtigkeit nicht mit Ungerechtigkeit, also zum Beispiel unlauteren Mitteln, hergestellt werden. Auch das ist wichtig zu beachten. Nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg, wie wir unser Ziel erreichen, ist von äußerster Bedeutung: Der Zweck heiligt nicht (!) die Mittel.
"Tikkun olam", das Verbessern der Welt, beginnt stets im eigenen Umfeld. Als Konsequenz des Wochenabschnitts sollte jeder anfangen sich zu fragen, ob es im eigenen Umfeld gerecht zugeht. Es ist viel zu einfach und bequem wegzuschauen, wenn das Unrecht einen nicht selbst betrifft.
Die Aufmerksamkeit darauf zu legen, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, ob das nun angenehm ist oder nicht; eine ehrliche Antwort zu finden und konsequent zu versuchen, das eigene Tun zu verbessern: Das macht aus einem Blinden, der nicht merkt oder merken will, was um ihn herum geschieht, einen weiseren Menschen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr Weisheit!
Schabbat Schalom!
Zur Person: Alexander Nachama
Geboren 1983 in Frankfurt am Main. 2005 erhielt er von Rabbiner Zalman Schachter-Shalomi, dem Gründer der Rabbiner- und Kantorenschule "Aleph", eine Urkunde als Kantor. 2008 erhielt er einen Bachelor in Judaistik (Freie Universität Berlin), 2013 einen Master (Universität Potsdam).
Ab 2007 absolvierte er eine Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg mit Studienaufenthalten in Israel, die er 2013 mit der Ordination zum Rabbiner abschloss. 1998 - 2011 amtierte Alexander Nachama zunächst als ehrenamtlicher Vorbeter, später als Kantor in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
In den Jahren 2012 - 2018 war er Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dresden, bis August 2023 Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Inzwischen ist Alexander Nachama der zuständige Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 06. September 2024 | 15:45 Uhr