ForuM-Sudie zu sexualisierter Gewalt Mehr Fälle von Missbrauch in der evangelischen Kirche als bisher angenommen
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12. Februar 2024, 12:30 Uhr
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes unabhängiges Forscherteam stellte am Donnerstag in Hannover seine ForuM-Studie vor, in der von wesentlich mehr Opfern und Tätern als bisher die Rede ist. Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", so Studienleiter Wazlawik. Die Forscher entdeckten auch spezifische Risikofaktoren, die Missbrauch und dessen Vertuschung in der evangelischen Kirche und der Diakonie begünstigten.
Laut der unabhängigen ForuM-Studie sind in der evangelischen Kirche bislang Missbrauchsfälle unzureichend erfasst und aufgearbeitet worden. Lange Zeit habe es keine verbindlichen Regelungen gegeben, wie mit Missbrauchsfällen umzugehen sei, erklärte der Leiter der Forum-Studie, Martin Wazlawik, am Donnerstag in Hannover.
In der von der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beauftragten Studie sind seit 1946 mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter in Kirche und Diakonie erfasst worden. Bislang war von rund 900 Missbrauchsopfern die Rede.
Dies sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", so Studienleiter Watzlawik. Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht strukturiert hätten erfasst werden können, heißt es in der Auswertung des Forscherteams.
Unzufriedene Wissenschaftler: "Schleppende Zuarbeit"
Unmut äußerten die Wissenschaftler über die Datengrundlage der Studie. Der an der Studie beteiligte forensische Psychiater Harald Dreßing sagte bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse in Hannover, aus den zwanzig Landeskirchen habe es lediglich eine "schleppende Zuarbeit" gegeben. Das Forschungsvorhaben alle Personalakten einzusehen, hätten die Wissenschaftler nicht vollständig umsetzen können.
Es sei dann "aus der Not geboren" worden, sich im Wesentlichen auf die Auswertung von Disziplinarakten zu beschränken. Bei der sogenannten MHG-Studie, die 2018 zum Missbrauchs in der katholischen Kirchen vorgelegt wurde, hätten das die Diözesen besser hinbekommen als jetzt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), monierte Dreßing.
Begünstigende Faktoren für Missbrauch
Die Studie zeigt zudem, dass es evangelische Besonderheiten gebe, die sexualisierte Gewalt ermöglichen und begünstigen können. Dazu zählten zum Beispiel "Diffusion von Verantwortung", der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie "die Selbsterzählung der Fortschrittlichkeit" der evangelischen Kirche, sagte Studien-Leiter Martin Wazlawik.
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte bei der Vorstellung der Studie zur lückenhaften Datengrundlage: "Ich weiß, dass die Forschenden unzufrieden waren und sind. Wir nehmen die Kritik an." Es sei klar, dass die evangelische Kirche zu einer einheitlichen Falldokumentation kommen müsse. "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut", sagte sie.
Betroffene: Unterstützung vom Staat nötig
Betroffene forderten von der evangelischen Kirche Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie. Die Studie zeige, dass der Föderalismus der evangelischen Kirche "ein Grundpfeiler für sexualisierte Gewalt“ sei, so Detlev Zander, Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Auch Katharina Kracht, die dem früheren Betroffenenbeirat der EKD angehörte, kritisierte, die EKD sei "eigentlich ein zahnloser Tiger". Sie forderte Unterstützung des Staates bei der Aufarbeitung. Benötigt würden externe Stellen, an die sich Betroffene wenden könnten, sagte Kracht.
Auch Fälle von Missbrauch in Mitteldeutschland
In der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gibt es mindestens 125 Betroffene von sexualisierter Gewalt und Missbrauch. In der vorgestellten Studie wurden für die Kirche in Mitteldeutschland insgesamt 49 Beschuldigte in den vergangenen Jahrzehnten erfasst.
Für die Studie seien mehr als 9.000 Personalakten von Pfarrpersonen aus den Jahren 1946 bis 2020 ausgewertet worden, teilte die EKM mit. "Dies ist aber nur das Hellfeld sexualisierter Gewalt", sagte Landesbischof Friedrich Kramer. "Wir müssen mit einem sehr viel größeren Dunkelfeld rechnen." Die EKM werde die Studie genauestens auswerten.
Landesbischof Bilz: "Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen und konsequent handeln"
"Die nun vorliegenden Ergebnisse der ForuM-Studie zeigen in ihrer Gesamtsicht auf erschütternde Weise das Ausmaß, in dem sexualisierte Gewalt auch in unserer Kirche stattgefunden hat. Sie zeigen aber auch das Versagen unserer Kirche im Umgang mit den Betroffenen und das Leid, welches damit für die Betroffenen bis heute verbunden ist“ sagt Tobias Bilz in einer ersten Reaktion auf die heute veröffentlichte Studie.
Er macht deutlich, dass die Kirche hier in doppelter Weise an den Betroffenen schuldig geworden sei: "Wir konnten sie vor der Gewalt nicht schützen und sind ihnen oftmals nicht gerecht geworden, als sie den Mut fanden darüber zu sprechen", so Landesbischof Bilz.
Aus dieser Erkenntnis erwachse eine dauerhafte Verantwortung und Pflicht zum Handeln. "Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen und konsequent handeln", sagte der Landesbischof und betonte: "Wir nehmen die Ergebnisse der Studie sehr ernst. Die Studie wird auch in der sächsischen Landeskirche intensiv ausgewertet werden und in unsere bereits laufenden Prozesse der Aufarbeitung einfließen".
Gemeldete Fallzahlen von Landeskirche und Diakonie
Anlaufstellen für Missbrauchsopfer:
Zentrale Anlaufstelle help. für Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie
E-Mail: zentrale@anlaufstelle.help
Kostenlos und anonym Telefon: 0800 5040112
Terminvereinbarung für telefonische Beratung:
Mo: 14.00 – 15.30 Uhr Di bis Do: 10.00 – 12.00 Uhr
Internet: https://www.anlaufstelle.help/
Landeskirchliche Ansprechpersonen für Betroffene sexualisierter Gewalt
Internet: https://www.ekd.de/Ansprechpartner-fuer-Missbrauchsopfer-23994.htm
Quelle: KNA, epd, dpa
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 25. Januar 2024 | 08:40 Uhr