Erzgebirge Aufarbeitung mit Hindernissen: Sexueller Missbrauch in der Kirchgemeinde Pobershau
Hauptinhalt
23. Januar 2024, 10:33 Uhr
Die Aufarbeitung sexueller Gewalt kann zur Zerreiprobe werden. So geschehen in der evangelischen Kirchgemeinde in Pobershau im Erzgebirge. Es geht um sexualisierte Übergriffe eines Kirchenmusikers auf drei Mädchen, um eine gespaltene Gemeinde – und um eine Landeskirche, die lange untätig blieb. Nach langem Zögern beginnt sie jetzt mit der Aufarbeitung – ein schmerzhafter Prozess, von dem Andreas Roth berichtet.
Über zwei Jahrzehnte lag im Verborgenem, was ein ehrenamtlicher Kirchenmusiker in der Pobershauer Kirche drei Mädchen Ende der 1990er-Jahre angetan hatte. Erst 2018 vertraut es der Vater einer der Betroffenen dem Pfarrer an - erzählt von den Berührungen, den Übergriffen. Der Pfarrer ist noch jung, gerade drei Jahre in dem Erzgebirgsdorf im Amt – doch Burkhard Wagner zögert nicht.
Wenn ich hier schweige, mache ich mich mitschuldig. Was mich dabei noch bestärkt hat, war ein Wort aus dem Epheserbrief 'Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, deckt sie vielmehr auf'.
Was Pfarrer Burkhard Wagner an diesem Dezembertag 2018 auch weiß: Es wird seine Gemeinde zerreißen. Und so kommt es.
Der Pfarrer sucht das Gespräch mit den drei, mittlerweile erwachsenen Betroffenen, glaubt ihnen. Im Mai 2019 machte er den Fall in der Gemeinde öffentlich. Der beschuldigte ehrenamtliche Kirchenmusiker widerspricht den meisten Vorwürfen nicht und wird suspendiert. Seitdem ist die Gemeinde gespalten, sagt Kirchenvorsteher Lutz Reichel.
Die einen sagen: Die Fälle sind passiert, man muss da eine Klärung, eine Aufarbeitung herbeiführen. Die anderen sagen: Es ist so lange her, es hat auch ein öffentliches Statement des Beschuldigten gegeben – jetzt muss doch mal gut sein. Wir müssen vergeben.
Täter-Opfer-Umkehr
Für die drei Betroffenen ist dies ein zweites Trauma, so schildern sie es selbst. Der Dresdner Arzt und Trauma-Experte Gregor Mennicken gehört der unabhängigen Kommission an, die jetzt die Fälle im Erzgebirge aufarbeiten soll. Er meint:
„Das ist vielleicht spezifisch für diese Region, dass hier sehr schnell der Ruf nach Vergebung und Versöhnung geäußert wurde und es damit auch zu einer Art Täter-Opfer-Umkehr kam. Nach dem Motto: Wenn Ihr nicht vergebt, dann seid Ihr schuld, dass die Gemeinde gespalten ist."
Die evangelische Landeskirche wiederum hat damals weder Konzepte noch Strukturen, um in Pobershau einzugreifen. Genau das hätte sich aber der Kirchenvorstandsvorsitzende Lutz Reichel gewünscht.
Der um Aufklärung bemühte Pfarrer Burkhard Wagner verlässt Ende 2020 die Gemeinde. Er hat nicht gleichzeitig seelsorgerisch für die Familien der Betroffenen und des Täters tätig sein können, sagt er. Da er sich klar auf die Seite der Opfer stellt, sieht er sich auch vielen Anfeindungen ausgesetzt.
Aufarbeitung durch unabhängige Kommission
Vor einer Woche hat nun in Pobershau die öffentliche Aufarbeitung begonnen, fast drei Jahre nach dem ersten Bekanntwerden der Übergriffe. Eine unabhängige Kommission wurde eingesetzt. Sie soll nach den Strukturen suchen, die solche Taten erst möglich gemacht haben – und auch Gründe für die nur schleppende Aufklärung benennen. Landesbischof Tobias Bilz hatte die Idee zu diesem Abend. Er selbst sieht die Rolle seiner Kirche kritisch.
Das Leid der Betroffenen ist das, was einen als erstes berührt. Da hat man eine Mischung von Gefühlen, Bedauern und so weiter. Ich denke, die Kirche hat nicht zu jedem Zeitpunkt selber klargemacht, wie schlimm das eigentlich ist.
An diesem Abend in Pobershau ändert sich etwas. Die Anwesenden hören zu. Eine weinende Frau ist kaum zu beruhigen. Dem Vater einer Betroffenen bricht die Stimme. Doch niemand fordert Vergebung oder gar einen Schlussstrich. Es ist ein Anfang, dem Schmerz nicht mehr auszuweichen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. April 2022 | 09:15 Uhr