Der Redakteur | 11.09.2024 Strafzahlungen für verpasste Arzttermine: Bringt das mehr Frust oder mehr Termine?
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11. September 2024, 15:27 Uhr
Die Diskussion ist losgetreten. Und das war auch die Intention von Dr. Andreas Gassen, dem Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. 100 Euro je abgesagtem Termin, bezahlt durch die Kassen, fordert er.
Die Reaktionen kamen prompt und waren heftig: "Ich würde ja gerne absagen, wenn jemand ans Telefon gehen würde!", so die vielfach geäußerte Meinung in der MDR THÜRINGEN-App und am Servicetelefon.
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Stundenlang im Wartezimmer ausharren
Termintreue durch den Arzt wäre auch nicht schlecht, "damit man nicht stundenlang im Wartezimmer zubringt" war ein anderer Einwand. Doch auch aus der Ärzteschaft kam Kritik an dem Vorschlag zu Strafgebühren für verpasste Arzttermine. Dr. Uwe Kraffel, Vorstandsmitglied beim deutschen Fachärzteverband, sieht mit der Idee die Falschen bestraft. Wenn Strafzahlungen, dann müssten schon aus pädagogischen Gründen die Patienten zahlen und nicht die Kassen. Auch seien 100 Euro zu viel. Als Augenarzt bekäme er pro Patient 30 Euro im Quartal, das müsse im Verhältnis stehen.
Arzt-Termine nur unter bestimmten Bedingungen
Die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen teilte schriftlich mit, dass einige Praxen wegen der zunehmenden Ausfallzeiten durch säumige Patienten bereits dazu übergegangen seien, Termine nur noch mit Abschluss einer Vereinbarung über die Zahlung einer Ausfallgebühr zu vergeben. Gerade die überlasteten Facharztgruppen würden zunehmend über unentschuldigtes Nichterscheinen von Patienten leiden. Immer wieder stelle sich heraus, dass Patienten Termine in mehreren Praxen vereinbaren und nur einen davon nutzen.
Eine Verpflichtung zum 'Schadenersatz' für solche Egoisten läge durchaus im Interesse der Allgemeinheit.
Haben die Ärzte plötzlich einen Erziehungsauftrag?
Die Patienten einer Praxis sind ein Spiegelbild dafür, was aktuell schiefläuft in unserer Gesellschaft. Und es potenziert sich dort mitunter noch. Denn wer zum Arzt geht, hat meistens ein Problem. Fachärztevertreter Dr. Uwe Kraffel verweist darauf, dass es immer mehr Menschen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, ihr Leben und ihren Kalender zu organisieren. Da sei schon die Terminvergabe am Telefon ein nicht zu überwindendes Hindernis.
Sprachbarriere und fehlende Organisation keine Einzelfälle
Eine Ursache dafür: Analphabetismus. Das sei ein zunehmendes Thema auch in der deutschen Bevölkerung. Dazu kämen mangelnde Deutschkenntnisse wegen der Migration. Und Dr. Kraffel stört sich besonders an den Menschen, die aus ihrem Alltag kaum Termine kennen. Die nehmen es damit dann auch beim Arzt nicht so genau und schlafen lieber aus. Und das seien ausgerechnet die, für die der Staat in der Regel die Kassenbeiträge zahlt. Von daher lehnt er den Vorschlag ab, dass für die Gebühren auch noch die Krankenkassen und damit die termintreuen Patienten aufkommen sollen.
Wenn eine OP angesetzt ist für 8 Uhr und die Patientin kommt erst 10 Uhr, weil sie nicht aus dem Bett rausgefunden hat. Oder sie kommt gar nicht, weil sie es vergessen hat, dann steht der OP leer.
Im Klartext: Diesen Termin hätte ein anderer liebend gern genommen. Und diese Fälle sind leider keine Einzelfälle.
Facharzttermine über die KV: Ein Drittel der Termine verfällt
Am größten sind die Probleme dann, wenn der geplante Arzt-Patient-Kontakt etwas länger ausfällt. Also: Der nicht abgesagte Kontrolltermin beim Zahnarzt fällt weniger ins Gewicht. Wenn aber eine Stunde für die neue Krone eingeplant ist, sieht es schon anders aus. Dr. Kraffel verweist darauf, dass ein Drittel der über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen gebuchten Termine ungenutzt verfällt. Hier ist also ein großes Potential für alle, die keine Termine bekommen.
Ein Drittel der Termine werden einfach nicht wahrgenommen. Die Leute kommen einfach nicht.
Online-Terminbuchung beim Hausarzt
Ähnlich argumentiert auch Dr. Ulf Zitterbart vom Thüringer Hausärzteverband. Hausärzte hätten zwar genügend Durchlauf, weil die Leute spontan kommen. Da falle ein abgesagter Termin nicht so ins Gewicht. Werde aber Zeit frei gehalten für Vorsorgeuntersuchungen oder gar die konkrete Impfkanüle, sieht es schon wieder anders aus. Deshalb bereiten auch immer mehr Hausarztpraxen Onlinesysteme vor, über die Termine gebucht und auch wieder abgesagt werden können. Der Vorteil: Auch bei kurzfristigen Absagen wird immer noch jemand die Lücke finden, der gerne einspringt.
Buchungssystem kann Praxis entlasten
An dieser Stelle besteht absolute Einigkeit unter den Fach- und Hausärztevertretern. Die Buchungssysteme können die Praxen erheblich von bürokratischem Aufwand entlasten und für mehr genutzte Termine sorgen. Das bedeutet auch: Mit Digitalisierung ist eben nicht die Umstellung vom Telefon auf E-Mails gemeint. Denn auch 200 Terminmails pro Tag sind für die Arzthelferinnen kaum zu organisieren, die eigentlich andere Aufgaben haben.
Wenn hier noch telefonische Rückfragen nötig sind, müssten mehrere Leute zusätzlich beschäftigt werden und zum Thema "kommunikative und kalendarische Defizite" hat Dr. Kraffel vom Fachärzteverband deutliche Worte gefunden. Zwar mag es Fälle geben, bei denen die Patienten den Eindruck haben, auch in einer leeren Praxis wird das Telefonklingeln gerne ignoriert. Aber angesichts des Ärztemangels und der damit verbundenen Verdichtung der Arbeit auf wenige Praxen, müssen dringend neue Lösungen her.
Bleiben ältere Patienten auf der Strecke?
Der Vorsitzende des Thüringer Hausärzteverbandes Dr. Ulf Zitterbart glaubt fest daran, dass die digitalen Buchungssysteme sehr schnell kommen würden. Auch die Hausärzte arbeiten daran, zum Beispiel für Vorsorgeuntersuchungen. Und viele Facharztpraxen seien sogar schon deutlich weiter. Das Argument aber, ältere Patienten würden auf der Strecke bleiben, will Dr. Zitterbart nicht gelten lassen. Viele Hochbetagte könnten sehr wohl mit dem Internet umgehen. Und wer es nicht kann oder möchte, findet in seinem Umfeld jemanden, der das übernehmen kann. Sei es in der Familie oder in der Nachbarschaft. Da sind wir übrigens wieder bei der Diskussion über den Zustand unserer Gesellschaft. Wen wollen wir dafür verantwortlich machen, dass wir nebeneinander herleben?
Also wir haben das bei der Impfzeit gesehen: 89-Jährige haben sich online Termine gebucht oder jemanden gefunden, der hilft.
Und noch ein Aspekt kam in der Diskussion zur Sprache: In der Regel trifft man als Patient in den Praxen auf Menschen, die zwar in dem System arbeiten, es aber nicht zu verantworten haben. Darauf verweist ein Schild in einer Praxis, von dem MDR-THÜRINGEN-Hörerin Birgit Neumann aus Altleiningen in der Pfalz erzählt. Sie hört als gebürtige Thüringerin über Alexa das Radio aus der Heimat. "Liebe Patienten, bitte seien Sie freundlich zu unserem Personal, davon haben wir nicht genug. Patienten haben wir immer."
MDR (ifl)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 11. September 2024 | 16:40 Uhr