Denis Trubetskoy - Porträt Junger Mann
MDR-Ostblogger Denis Trubetskoy lebt in Kiew, befindet sich aber seit einer Woche auf der Flucht in der ukrainischen Provinz. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Interview Ukraine-Krieg: Auf der Flucht in der Provinz

05. März 2022, 10:12 Uhr

Seit Jahren berichtet der ukrainische Journalist Denis Trubetksoy für den MDR über Alltag und Politik in seinem Land. Seit einer Woche ist er, wie Hunderttausende Ukrainer, auf der Flucht. Er schildert, wie er den Anfang der russischen Invasion erlebt hat, wie Staatspräsident Selenskyj zum Nationalhelden aufgestiegen ist und wie der Alltag im Krieg aussieht.

Wie und wo haben Sie den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine erlebt?

Ich bin, nachdem ich erste Explosion gehört hatte, in die Innenstadt zu einem Kollegen gefahren. Die ersten zweieinhalb Tage waren ein ziemliches Hin und Her, zweimal musste ich zum Beispiel in einer Metro-Station Schutz suchen, die als Luftschutzkeller diente. Zeitweise war ich auch am Stadtrand, wo es zu der Zeit sicherer war. Und kurz vor der Verhängung der langen Ausgangssperre in Kiew konnte ich die Stadt verlassen. Jetzt befinde ich mich in einem Dorf im Gebiet Schytomyr, südwestlich von Kiew.

Was bekommen Sie an diesem neuen Ort vom Krieg mit? Fühlen Sie sich dort sicher?

Was man ab und zu hört, sind Geräusche von Flugzeugen, die ab und zu über uns fliegen. Aber der Ort, wo wir uns befinden, das ist ungefähr hundert Kilometer von fast allen größeren Städten in der Region entfernt, daher ist es hier relativ sicher. Wobei so richtig sicher ist es in der Ukraine im Moment fast nirgendwo.

Wie nimmt die ukrainische Bevölkerung ihre politische Führung, insbesondere Präsident Selenskyj, jetzt wahr?

Präsident Wolodymyr Selenskyj ist jetzt natürlich zu einem Nationalhelden aufgestiegen. Und das ist wirklich sehr bemerkenswert. Denn Selenskyj wurde 2019 zwar von einer großen Mehrheit zum Präsidenten gewählt, aber selbst unter seinen Wählern gab es durchaus Zweifel, ob Selenskyj wirklich in der Lage sein wird, in einer solchen Situation das Ruder derart sicher in der Hand zu halten. Es gab viele Menschen, die da skeptisch waren. Und die Skepsis erweist sich jetzt als völlig unbegründet.

Auch Selenskyjs menschliche Art, also die Art und Weise, wie er spricht, kommt gut an. Das hat natürlich sehr viel mit seiner Schauspielerkarriere zu tun, er kann ja sehr gut Emotionen vermitteln. Diese Menschlichkeit, in einer Situation, in der das Land von einer Atommacht überfallen wird, das ist etwas, was die Menschen motiviert. Die Rolle von Selenskyj und seinem Umfeld ist im Moment also nicht zu unterschätzen.

Wie ist das Verhältnis zwischen den russisch- und den ukrainischsprachigen Ukrainern?

Ich glaube, dass die in Deutschland sehr beliebte These von der Ost-West-Teilung der Ukraine – also grob gesagt vom pro-russischen Osten und dem pro-westlichen Westen des Landes – die man immer noch in den Medien liest, falsch ist. Das hat sich 2014, nachdem Russland die Krim annektiert und der Krieg im Donbas begonnen hatte, vollkommen erledigt. Es gibt durchaus politische Differenzen im Land, aber nicht mehr auf dieser Ebene. Die Lust auf Russland nahm seit 2014 kontinuierlich ab, und die russischsprachigen Ukrainer haben grundsätzlich die gleiche Meinung über Wladimir Putin wie die ukrainischsprachigen Ukrainer. Das Land ist angesichts der russischen Gefahr so geeint wie noch nie zuvor. Die innenpolitischen Differenzen, die es in der Ukraine gab, spielen im Moment überhaupt keine Rolle.

Wie macht sich der Krieg in der Ukraine im Alltag der Menschen bemerkbar?

Alles ist viel komplizierter geworden. Geldabheben zum Beispiel ist ein Problem oder Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen, denn das Angebot ist deutlich kleiner geworden. Wenn man zwischen den Städten reist beziehungsweise reisen muss, hat man mit sehr vielen Checkpoints zu tun. Der Alltag hat sich also sehr stark verändert, und zwar von heute auf morgen.

Säcke werden mit Sand befüllt.
Vielerorts in der Ukraine helfen Zivilisten bei der Verteidigung ihres Landes. In dem unter russischem Beschuss stehenden Saporischschja (im Bild) schleppen sie Sandsäcke heran, um die Checkpoints an den Einfallstraßen zu befestigen. Bildrechte: IMAGO / Ukrinform

Wie informieren sich die Menschen über die aktuelle Lage in der Ukraine? Und wie arbeiten Sie persönlich als Journalist in dieser schwierigen Situation?

Solange man Strom und Internet hat, ist es eigentlich wie immer. Fernsehen, Hörfunk und Internet, das sind in erster Linie die Informationsquellen. In den ukrainischen Fernsehsendern läuft jetzt im Prinzip das gleiche Programm. Als Journalist ist es natürlich kompliziert, weil man viele der beiden Seiten nicht wirklich verifizieren kann. Man muss dann durch indirekte Hinweise versuchen zu verstehen, wie die Lage eigentlich ist – zum Beispiel indem man auf die Karte der ukrainischen Eisenbahn schaut, wo sie verkehrt und wo sie nicht verkehrt, um zu verstehen, wer wo vorgedrungen ist.

Haben Sie Hoffnung, dass es bald Frieden gibt in der Ukraine?

Ob bald… das ist eine schwierige Frage. Eine Friedensgrundlage gibt es erst dann, wenn eine der Konfliktparteien eine große militärische Überlegenheit hat. Das ist im Moment noch nicht abzusehen und einiges deutet darauf hin, dass dieser Konflikt ziemlich lange dauern könnte. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. März 2022 | 07:30 Uhr

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