Russische Präsidentschaftswahlen Wie Russen in Deutschland gegen Putin protestieren
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19. März 2024, 09:58 Uhr
"Mittags gegen Putin" hieß eine Protestaktion der russischen Opposition während der von Putin inszenierten Präsidentschaftswahlen am vergangenen Wochenende, die darin bestand, am Sonntag um genau 12 Uhr mittags Ortszeit zur Wahl zu gehen. Auch Alexej Nawalny hatte die Aktion vor seinem Tod unterstützt. Die Schlangen vor den Wahllokalen zu dieser Uhrzeit weltweit sollten zeigen, dass viele Russen gegen Putins Wiederwahl sind. Unsere Ostbloggerin Daria Boll-Palievskaya war in Bonn dabei.
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Bereits gegen halb elf ist die Warteschlange vor dem russischen Generalkonsulat in Bonn fast 500 Meter lang. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite posieren zwei Männer mit russischer Trikolore. Darf ich sie fotografieren? "Sag zuerst, ob die Krim uns gehört?", fragen sie zurück. Ich gehe weiter. Hier und da hört man aus der Schlange das russische Volkslied "Katjuscha", das als patriotisch gilt.
"Die Warteschlange war bereits um acht Uhr morgens da, als das Wahllokal gerade erst geöffnet wurde", sagt die Soziologin Galina Seliwanowa von der Universität Bonn, die hier eine Nachwahlbefragung des unabhängigen russischen Projekts "Vote Abroad" leitet. Bis zwölf Uhr haben die Freiwilligen bereits mit 300 Personen gesprochen. "Die meisten antworten gerne und freundlich, obwohl es auch einige gibt, die sich weigern zu antworten."
Nur zwei Wahllokale in Deutschland
Viele der Wähler haben eine weite Anreise in Kauf nehmen müssen, so Seliwanowa. Denn für die mehr als 308.000 russischen Staatsangehörigen, die in Deutschland leben, gibt es nur zwei Wahllokale: in der Botschaft in Berlin und hier am Generalkonsulat in Bonn. Vier weitere russische Konsulate, wie das in Leipzig, wurden vor Kurzem im Zuge diplomatischer Streitigkeiten zwischen Berlin und Moskau geschlossen. Eine Briefwahl ist in der russischen Gesetzgebung nicht vorgesehen und eine Online-Wahl war für die Russen im Ausland bei dieser Wahl ebenfalls nicht möglich. Letzteres, um eine "Einmischung von außen" zu verhindern, wie die Leiterin der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation, Ella Pamfilowa, mitteilte.
Die Freiwilligen um Seliwanowa haben bisher mit Wählern beider Lager gesprochen: Mit solchen, die für Putin gestimmt und mit anderen, die ihr Kreuz bei Wladislaw Dawankow gemacht haben. Dawankow tritt für die Partei "Neue Leute" bei der Wahl an. Von der Antikriegswählerschaft wird er als Alternativkandidat gesehen. Meine kurzen Interviews mit den Menschen, die gerade gewählt haben, ergeben ein ähnliches Bild: "Für wen haben Sie gestimmt?", frage ich Irina. "Ganz ehrlich? Für Putin!" Irina stammt aus Kasachstan und lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Dank Putin sei das Leben in Russland viel besser als in den 90er-Jahren, glaubt sie. Deshalb sei er der einzige akzeptable Kandidat.
Die nächste Gruppe von Wählern möchte nicht antworten: "Das ist eine geheime Wahl!", belehrt mich eine Dame mit einem Bändchen in Farben der russischen Flagge im Haar. Diese Bändchen lagen im Wahllokal aus. Drei junge Moskauerinnen, die nach Beginn des Krieges nach Deutschland gekommen sind, haben für Wladislaw Dawankow gestimmt. Wie auch Alexej aus der Republik Burjatien. Warum sind sie nicht um die Mittagszeit zum Wählen gekommen, um an der Protestaktion teilzunehmen? "Wir sind extra aus Frankfurt angereist und auf die Zugverbindungen angewiesen", antwortet Alexej schulterzuckend.
Alexander aus Rostow am Don lebt seit 28 Jahren in Deutschland und hat seine Stimme Putin gegeben: "Er ist der Einzige, der etwas für sein Land tut!", ist er überzeugt. Daria und Wladimir aus Saratow, die erst vor einem Jahr nach Deutschland gekommen sind, haben dagegen für Dawankow gestimmt. Grigorij aus Moskau lebt seit 28 Jahren hier und hat für den amtierenden Präsidenten gestimmt. Seine Begleiterin möchte keine Fragen beantworten: "Das ist meine Privatsache, das geht Sie nichts an!" Julia von der Bewegung feministischer Antikriegswiderstand Bochum hat Russland vor zehn Jahren aus politischen Gründen verlassen. Ihre Wahl erklärt sie so: "Ich habe für Dawankow gestimmt, weil die Mehrheit der Opposition ihn als unseren Kandidaten markiert hat."
Ab Mittag kippt die Stimmung
Um zwölf Uhr ertönt aus Lautsprecherboxen, die genau gegenüber des Ausgangs aufgebaut sind, durch den die Wähler das Gelände des Generalkonsulats verlassen, das Lied "Hallo, hier ist Nawalny" der russischen Rock-Band "Elisium". So beginnt der Verein Freies Russland NRW e.V., der in Russland als eine "unerwünschte Organisation" gilt, die angekündigte Protestaktion. Etwa 250 Personen haben sich mit Plakaten und Mikrofonen vor dem Konsulat positioniert, genau dort, wo ein kleines Mahnmal für Alexej Nawalny errichtet wurde. Plötzlich kippt die entspannte Stimmung. Die Menschen teilen sich, als wären sie von einem unsichtbaren Messer getrennt: Während die Demonstranten "Putin nach Den Haag!" und "Russland wird frei sein!" rufen, werden sie von einigen Leuten, die gerade aus dem Konsulat kommen, wüst und laut beschimpft.
Die Schlange ist inzwischen doppelt so lang geworden. Kann die Opposition also einen Erfolg verbuchen? Mitten im Geschehen treffe ich Sergej Tsukasow, einen ehemaligen Kommunalpolitiker aus Moskau, der wegen seiner politischen Ansichten Russland verlassen musste. Wir gehen entlang der scheinbar endlosen Schlange, Sergej trägt ein riesiges Foto von Alexej Nawalny vor sich her. "Russland wird frei sein! Russland ohne Putin!", ruft er immer wieder. Die Schlange bleibt nicht gleichgültig. Fäuste werden in die Luft gestreckt und die Leute rufen zurück "Russland wird frei sein!"
Stundenlanges Warten
Aber es gibt auch diejenigen, die das überhaupt nicht gut finden: "Wer hat dich dafür bezahlt, du Idiot? Russland ist auch ohne deinen Nawalny frei! Du bist doch ganz allein!" Doch die Aggressivität dieser Menschen prallt an Sergej ab. Er betrachtet die Warteschlange und ist zufrieden. "Alle, die gekommen sind, haben an der Aktion "Mittags gegen Putin" teilgenommen, auch wenn sie für Putin gestimmt haben", ist er überzeugt. "Denn sie haben genau die Schlange gebildet, die die Welt sehen wird und die die Opposition haben wollte."
Sergej stellt mich seinen Mitstreitern vor, lokalen Abgeordneten aus Russland, die jetzt im Exil leben. Darunter ist auch Nikita Juferow, ein Abgeordneter der Stadtduma aus St. Petersburg, der zusammen mit seinen Kollegen die Amtsenthebung von Wladimir Putin wegen Hochverrats forderte. Er hat gerade gewählt und ist begeistert: "Wir sind um 11:45 Uhr gekommen und haben zwei Stunden angestanden. Alle, die neben uns standen, kamen, um an der Aktion "Mittags gegen Putin" teilzunehmen! Nur eine einzige Frau hat sich in eine riesige russische Flagge gewickelt, um zu zeigen, dass sie Patriotin ist." Für Nikita ist sie aber keine Patriotin: "Ich verstehe nicht, warum diese Leute, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, für Putin eintreten. Warum gehen sie dann nicht nach Russland zurück, wenn dort alles so schön ist?"
Am späten Abend liegen die Ergebnisse der Nachwahlbefragung des unabhängigen russischen Projekts "Vote Abroad" vor. Demzufolge gaben von 2.533 in Bonn befragten Wählern 31 Prozent ihre Stimme Putin und weitere 28 Prozent Dawankow. Der Kandidat der kommunistischen Partei, Nikolai Charitonow, erhielt nur ein Prozent. Für den vierten Kandidaten, den Vorsitzenden der "Liberaldemokratischen Partei Russlands" Leonid Sluzki, hat niemand gestimmt. Ein Viertel der Befragten wollte "Vote Abroad" gegenüber keine Angaben machen. Und 15 Prozent haben ihren Wahlzettel beschädigt – aus Protest.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 17. März 2024 | 19:30 Uhr