Menschen mit Flaggen und Plakaten auf einer Großdemonstration in Budapest am 14. April 2018
Großdemonstration gegen die Wiederwahl Victor Orbáns in Budapest am 14. April 2018. Eine Forderung der Demonstranten: Pressefreiheit. Bildrechte: imago/Xinhua

Wie frei ist die Presse in Ungarn?

06. März 2019, 11:23 Uhr

In keinem Land Europas hat sich die Situation der Presse innerhalb von nur zehn Jahren so verschlechtert wie in Ungarn, hat die internationale Organisation "Reporter ohne Grenzen" im Mai 2018 vermeldet. In ihrem jährlichen Pressefreiheitsranking ist Ungarn seit dem Amtsantritt von Premierminister Victor Orbán im Jahr 2010 um 50 Plätze gefallen, von Rang 23 auf 73. Wie das in Ungarn beurteilt wird, darüber berichtet Ostbloggerin Piroska Bakos.

Wenn es um die Bewertung der Pressefreiheit in Ungarn geht, herrscht zurzeit dieselbe Zerrissenheit wie bei allen politischen Themen: Jeder urteilt entsprechend seiner politischen Sympathien. Viele Intellektuelle, die die Orbán-Regierung kritisch sehen, beklagen eine fortdauernde Zensur, einen erhöhten Druck auf die Besitzer und Journalisten oppositioneller Zeitungen, ja sogar das Ende der Pressefreiheit. Viele Konservative und Orbán-Anhänger meinen hingegen, dass unabhängiger Journalismus sehr wohl existiere, man über alles schreiben und alles kritisieren könne, ohne dass ein Journalist in seiner Arbeit eingeschränkt würde. Einige Konservative behaupten sogar, dass die linksliberale Presse ständig versuche, der Mehrheit ihre "liberale Meinungsdiktatur" aufzuzwängen. Ich habe mit András Pethő und Tamás Lánczi darüber gesprochen. Die beiden Journalisten gehören unterschiedlichen politischen Lagern an.

Die Rolle der Medien

"Es gibt natürlich Redaktionen, in der Journalisten immer noch ganz frei arbeiten können. In diesem Sinne gibt es unabhängigen Journalismus, nur der Raum dafür wird immer enger", meint András Pethő, der Mitbegründer der investigativen Internet-Plattform "Direkt36". Pethő hatte zuvor jahrelang bei "Origo" gearbeitet, einem der größten Online-Nachrichtenportale Ungarns. Das Portal informierte ausgewogen und arbeitete parteiunabhängig. Als Pethő 2014 einen Artikel über auffallend teure Dienstreisen eines Ministers schrieb, geriet die Redaktion jedoch unter Druck. Nachdem der Chefredakteur entlassen wurde, höchstwahrscheinlich, weil er den Artikel nicht zurückgezogen hatte, kündigte auch Pethő und gründete mit ehemaligen Kollegen "Direkt36".

Ihr Ziel ist es, Korruption in Wirtschaft und Politik durch gründlich recherchierte Storys aufzudecken. Sie finanzieren sich hauptsächlich durch Crowdfunding. "Ich würde die Frage über Pressefreiheit anders stellen, nämlich, ob die Presse in Ungarn ihre zwei Hauptaufgaben erfüllen kann. Kann sie einerseits die Menschen ausgewogen und gründlich darüber informieren, was in ihrer Umwelt geschieht? Und: Ist sie fähig, die jeweiligen Machthaber zu kontrollieren? Darauf lautet meine Antwort nein", sagt Pethő.

Orbáns Propaganda-Maschinerie

Pethő meint, dass Orbán während seiner ersten zwei Amtszeiten nach und nach eine eigene Propaganda-Maschinerie aufgebaut habe. Im Falle der öffentlich-rechtlichen Anstalten war dies wohl ziemlich einfach. Auch nach der politischen Wende von 1989/90 wurden sie noch als Sprachrohr des aktuellen Machthabers angesehen, egal ob es sich um eine sozialistisch-liberale oder konservative Regierung handelte. Mit dem neuen Mediengesetz von 2011 sei es Orbán gelungen, die Kontrolle über die Medienlandschaft noch weiter zu verstärken. Bei den kommerziellen Medienanstalten war das vor allem dadurch möglich, dass ausländische Eigentümer aus dem Mediengeschäft immer weiter verdrängt und durch regierungsnahe ungarische Unternehmer oder Oligarchen ausgetauscht wurden. Eine wichtige Ausnahme auf dem Fernsehmarkt stellt der Sender "RTL" dar, der sich in deutschen Händen befindet und mit einer sehr hohen Einschaltquote regierungskritische Nachrichten produziert.

Viktor Orban, Ministerpräsident Ungarn
Viktor Orban, Ungarns Ministerpäsident Bildrechte: IMAGO/Xinhua

Die regierungsnahen Presseorgane agieren dagegen im Sinne der Regierung: Themen würden selektiv und nicht nach Nachrichtenwert aufgearbeitet, sagt Pethő. Manche kommen in der Berichterstattung gar nicht vor, wie zum Beispiel das Ranking von Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen". Über andere Themen wird dafür überproportional viel berichtet. Das wurde vor allem an Orbáns Wahlkampf für seine vierte Amtszeit deutlich. Die Regierungspartei Fidesz rückte ein Thema besonders in den Vordergrund: die Migration und die daraus resultierende "Gefahr" für den europäisch-christlichen Kulturkreis. Das spiegelte sich in den regierungsnahen Medien wider. So errechneten zwei Migrationsexperten, dass das inzwischen regierungsnahe Nachrichtenportal "Origo" im März durchschnittlich 12,7 Artikel pro Tag zum Thema Migration veröffentlichte. Dabei wurden meistens echte, aber oft auch nur vermeintliche Kriminalfälle wie Brandstiftungen, Gewalt und Missbrauch erörtert. Das Wort "Migrant" wurde zum Schimpfwort.

Content kontra Zugriff

"Was dort 'Migrant' war, waren auf dem oppositionellen, marktführenden Nachrichtenportal 'Index' die 'Korruptionsfälle von Orbáns Schwiegersohn', das wurde auch unendlich oft wiederholt", meint Tamás Lánczi, der Chefredakteur der regierungsnahen Wochenzeitung "Figyelő". "Oppositionelle Journalisten selektieren die Themen genauso nach ihren eigenen Interessen. Manche, die zum Beispiel im Interesse des US-Milliardärs György Soros agieren, beziehen sich auf nicht nachgewiesene Quellen und benutzen Fake-News. Diese Themen sind jedoch einfach nicht attraktiv und glaubhaft genug, was man deutlich an den jüngsten Wahlergebnissen erkennt, bei denen Fidesz wieder eine Zweidrittel-Mehrheit erreicht hat", fügt Lánczi hinzu.

Tamás Lánczi
Der Chefredakteur der regierungsnahen Wochenzeitung "Figyelő": Tamás Lánczi. Bildrechte: Figyelő

Lánczi meint, dass die Oppositionsparteien - Linke, Liberale, Grüne - es in den letzten Jahren versäumt hätten, adäquate Themen und Probleme aufzugreifen. Das sei ihr größtes Problem, nicht der vermutlich ungleiche Zugriff auf die Ressourcen. Der Spielraum der linksliberalen Presse in Ungarn sei seit dem konservativen Regierungswechsel tatsächlich enger geworden, räumt Lánczi ein, von den früheren 100 sei er auf 50 Prozent gesunken. Das solle akzeptiert werden, wenn man nicht an der Macht sei, sagt Lánczi und ergänzt: "In Ungarn können alle Meinungen verbreitet werden, die Medienlandschaft ist ausgewogen und frei, es gibt keine Zensur".

Pressefreiheit in Zeiten von Facebook?

Es sei anachronistisch, sich genau jetzt um die Pressefreiheit zu sorgen, urteilt Lánczi. Als Grund dafür führt er die sozialen Medien an. Mit 5,5 Millionen Menschen habe Facebook in Ungarn mehr Nutzer als alle klassischen Print- und Online-Medien zusammen. "Facebook vertritt liberale Ansichten und treibt gezielte Zensur gegen Inhalte der konservativen Seite. Das hätten die linken Parteien und Bewegungen viel mehr ausnutzen können, haben es aber erneut verpasst", so Lánczi.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR aktuell | 17.05.2017 | 19:30 Uhr

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