Sejm im Dunkeln Polen: Warum das Parlament nachts abstimmt
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09. Juni 2020, 11:50 Uhr
Die polnische Regierung hat beschlossen, die für Sonntag geplante Präsidentschaftswahl zu verschieben. Die Entscheidungen dafür wurden nachts getroffen. Nicht ungewöhnlich, denn selbst das Parlament stimmt oft nachts ab.
Ein Rückblick: Es ist 3 Uhr am letzten Samstag im März. Anstatt zu schlafen, sitzen 439 der 460 polnischen Abgeordneten im Sejm, dem Parlament des Landes und stimmen über ein Gesetz ab. Und wenn in Polen am späten Abend abgestimmt wird, kann man davon ausgehen, dass es um "etwas" geht. In der Märznacht geht es um die im Mai geplante Präsidentschaftswahl in Polen und ob sie per Briefwahl abgehalten werden darf oder nicht. Es geht um viel. Vor allem um den Machterhalt der PiS in Zeiten von Corona.
Nachts abstimmen bei "schwierigen" Themen
Es ist keine Ausnahme für die polnischen Abgeordneten, zur Schlafenszeit über Gesetze zu diskutieren. Denn die Liste mit wichtigen Abstimmungen im polnischen Sejm, die nachts stattfinden ist lang: Sei es die Rentenreform in einer Novembernacht 2019, die umstrittene Justizreform in den Sommerferien in einer lauen Julinacht 2017 oder die Wahl neuer Richter des Verfassungsgerichtshofes.
Die nächtlichen Abstimmungen haben System, sagt der Krakauer Politikwissenschaftler Andrzej Piasecki. Gerade bei kontroversen Themen wie Wahlrechtsveränderungen oder Abtreibung werde nachts abgestimmt. Zum einen weil der Abstimmung oft lange Debatten vorausgehen und sich die Stimmabgabe damit bis in die späten Stunden zieht. Zum anderen jedoch auch, weil "die Regierung auch mit der Müdigkeit der Opposition und mit weniger Medieninteresse" rechnet.
Eine Taktik der regierenden PiS, die auch Oppositionspolitiker anprangern: So sind selbst Politiker der rechts-nationalen Partei "Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit", der die PiS häufig nicht konservativ genug ist, über das Vorgehen von Kaczyński und seiner Regierung erbost. Auf Twitter schreibt etwa Jakub Kulesza: "Ich weiß, dass um 2:30 Uhr morgens niemand gänzlich an Rechtsstaatlichkeit und einigen Vorschriften interessiert ist, aber die PiS verstößt einfach gegen die Vorschriften des polnischen Parlaments. Sie haben eine Änderung des Wahlgesetzes eingereicht, ohne die 14-Tage-Frist einzuhalten. Um 2:30 Uhr nachts. Die Abstimmung ist um 3:00 Uhr. Schön."
Andrzej Piasecki unterstreicht, dass es kein Verbot gebe, nachts über Gesetze abzustimmen. Es sei in Polen keine Frage des Rechts, sondern der Ethik. Ein viel größeres Problem sei zudem, dass der Opposition Redezeiten gekürzt werden, sie Materialien zu spät erhielten und damit keine Chance haben, sich in Themen einzuarbeiten.
Morgens um 2:54 Uhr am 28. März schreibt die Linken-Abgeordnete Marcelina Zawisza: "Wir haben gerade 79 Seiten mit Korrekturen erhalten, viele davon sehen wir zum ersten Mal. Wir haben 10 Minuten, um festzulegen, wie wir abstimmen, denn die Abstimmung beginnt um 3 Uhr. Und die Änderungsanträge? Die Partei Recht und Gerechtigkeit manipuliert die Wahl (…) das hier ist typisch Recht und Gerechtigkeit."
Die PiS-Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) wurde 2001 von den Zwillingsbrüdern Lech und Jarosław Kaczyński gegründet. Sie gilt als nationalkonservativ und europaskeptisch. Die PiS hat seit 2015 die Mehrheit im polnischen Parlament. An der Regierungsspitze stand zunächst Beata Szydło, seit 2017 leitet Mateusz Morawiecki die Regierung. Als unangefochtener und tatsächlicher Strippenzieher hinter den Kulissen gilt aber der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński.
Der Krakauer Politikwissenschaftler Piasecki beobachtet die Veränderungen bereits seit der ersten Alleinregierung der PiS-Partei im Jahr 2015: "Die Standards der Arbeit des polnischen Parlaments sind nach 2015 sehr stark gesunken. Von Zeit zu Zeit brechen Krisen aus, die den demokratischen Charakter des Funktionierens der Institution untergraben."
Die PiS äußert sich auf Anfrage, warum so viele Abstimmungen nachts abgehalten werden, nicht. Fakt ist jedoch, dass ihre Mehrheit im Sejm fragil ist und die Partei auf alle Stimmen ihrer Parteigenossen angewiesen ist. Viele der PiS-Abgeordneten bekleiden jedoch zusätzlich andere Posten innerhalb der Regierung wie etwa als Minister oder Staatssekretär. Da diese oft am Tag in ihren Aufgaben eingebunden sind, fehlen die Stimmen für wichtige Entscheidungen. Auch deshalb wird nachts abgestimmt.
(adg)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 15. Mai 2020 | 17:00 Uhr