Proteste gegen Abtreibungsverbot Polen: Der Staat gegen die Frauen
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23. Juli 2021, 17:29 Uhr
Ungeachtet des coronabedingten Versammlungsverbotes löste die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen im Herbst 2020 die größten Straßenproteste seit der "Solidarność"-Zeit aus. Der Zorn der Aktivistinnen über die Allianz zwischen Staat und Kirche dehnte sich durch das ganze Land aus. Nun will der Staat, dass sie dafür büßen.
Marta Lempart, eine der Anführerinnen des Frauenstreiks, ist wieder ins Visier der Staatsanwaltschaft von Warschau geraten. Die Behörde wirft ihr und zwei weiteren Aktivistinnen vor, "eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit vieler Menschen herbeigeführt und eine epidemiologische Bedrohung in Form der Möglichkeit einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus verursacht zu haben." Bei einer Verurteilung droht den drei Frauen eine Haftstrafe bis zu acht Jahren. Doch dazu wird es wohl nicht kommen, denn die Anklage ist schon deshalb absurd, weil das Oberste Gericht erst vor kurzem bestätigt hat, dass die während der Pandemie organisierten Versammlungen vollkommen legal waren.
Christliche Fundamentalisten in Aktion...
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft ist das Ergebnis einer Anzeige, die von Anwälten des christlich-fundamentalistischen Ordo Iuris-Instituts eingereicht wurde. Das wollte bereits 2016 in Polen ein Gesetz einführen, das nicht nur jede Abtreibung ohne Ausnahme verbietet, sondern bei Zuwiderhandlung auch die werdende Mutter mit Gefängnis bestraft. Die Fundamentalisten träumen davon, Sexualerziehung an Schulen und Verhütung zu verbieten und bekämpfen die Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt. Ordo Iuris gewinnt immer mehr Einfluss in Polen, auch in staatlichen Behörden und im Justizapparat, mit dessen Hilfe es seine Interessen gut vertreten kann.
...mit Hilfe der Staatsanwaltschaft
Das liegt auch daran, dass der Nationale Staatsanwalt, der Chef der wichtigsten polnischen Anklagebehörde, ein PiS-Hardliner ist. Seit vier Jahren kontrolliert Bogdan Święczkowski, der als rechte Hand des Justizministers gilt, wichtige Verfahren persönlich. Er war auch einer der Architekten der Justizreform, die auf die "Disziplinierung" von unabhängigen Richtern und Staatsanwälten abzielt und die in letzter Zeit zu einem ernsthaften Konflikt mit der EU geführt hat. Auch sein Chef Zbigniew Ziobro, der – anders als in Deutschland üblich - gleichzeitig das Amt des Generalstaatsanwaltes und des Justizministers inne hat, ist ein Hardliner, der zwar offiziell nicht der PiS angehört, aber deren Linie vertritt.
Die Suche nach dem juristischen Trick
Bereits im Oktober letzten Jahres war klar, dass die Regierung nichts unversucht lässt, um die Proteste zu verhindern und Teilnehmer unter Druck zu setzen: Festnahmen, Vernehmungen, Gerichtsverfahren, Geldstrafen. Man zielte besonders auf Jugendliche, Lehrerinnen, Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst ab, wohl in der Hoffnung, dass sie am leichtesten einzuschüchtern wären. Es war eine landesweite, gesteuerte Aktion.
Doch die Repressionen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Die Polizei verlor die allermeisten Verfahren vor Gericht, da die Rechtsgrundlage fehlte: Die Proteste waren per Verordnung verboten worden – und das war verfassungswidrig.
Einschüchterung wirkt nicht
Nachdem das Demonstrationsverbot durch das Oberste Gericht verworfen wurde, greifen die Behörden nach härteren Maßnahmen – nach dem Strafgesetzbuch. Die Aktivistinnen lässt die Anklage allerdings kalt, denn an Vergeltungsmaßnahmen sind sie längst gewöhnt. Eine davon ist Marta Lempart, gegen die gerade rund 70 Verfahren laufen. Sie wurde zusätzlich wegen Beleidigung eines Polizeibeamten und Anstiftung zu einer Straftat angeklagt: Störung des Gottesdienstes und Beschädigung von Kirchenfassaden. Mögliche Strafe: bis zu ein Jahr Gefängnishaft. Doch sie ist guten Mutes und hat gar nicht vor, ihren Aktivismus aufzugeben.
"Die Regierung bereitet wahrscheinlich etwas vor, das enormen gesellschaftlichen Widerstand provozieren wird, und die Behörden wollen ihn im Vorfeld so weit wie möglich schwächen. Sie senden ein Signal aus: Denkt genau nach, bevor ihr etwas tut, denn wir erwischen euch schon, einen nach dem anderen", so Marta Lempart.
Der stille Widerstand
Der Widerstand gegen das Abtreibungsgesetz geht derweil im Stillen weiter. Etwa über polnische Selbsthilfegruppen - "Tante Basia" aus Berlin oder "Tante Czesia" aus Prag - die seit Oktober vergangenen Jahres schon Hunderten von Frauen beim Schwangerschaftsabbruch im Ausland geholfen haben. Die Frauenrechtlerinnen arbeiten weiter an ihren Forderungen: abgesehen von der Abtreibung und den Frauenrechten wollen sie sich um die Rechte der LGBT-Menschen, die Schaffung eines säkularen Staates und um Klimafragen kümmern. Außerdem engagieren sie sich gegen eine geplante Schulreform, die katholische und nationalistische Einstellungen fördern will – und für eine zeitgemäße Bildungspolitik.
Polnische Frauen beschweren sich in Straßburg
Polnische Frauen suchen aber nicht nur nach "praktischer Hilfe" beim Schwangerschaftsabbruch im Ausland, sie beschweren sich auch bei internationalen Instanzen, wie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort gingen laut Gericht inzwischen über 1.000 Beschwerden gegen die neuen Regelungen ein, die unter anderem eine Abtreibung auch dann verbieten, wenn der Fötus schwere Fehlbildungen aufweist. Polen ist dazu verpflichtet, die Fragen zum verschärften Abtreibungsrecht bis Mitte September zu beantworten. Ob es dieser Pflicht nachkommen wird, ist indes fraglich. Der aktuelle Streit mit dem EuGH um die Justizreform hat gezeigt, dass weder Regierung noch Verfassungsgericht das europäische Recht als übergeordnet anerkennen.
Dicke Luft
Der Umgang mit den Frauenrechtlerinnen steht stellvertretend dafür, wie die PiS-Regierung, deren Zustimmungswerte starken Schwankungen unterliegen, die polnische Zivilgesellschaft derzeit unter Druck setzt. So schreiben die Frauenrechtlerinnen auf Facebook, dass das Ziel der Aktion der Staatsanwaltschaft sei, "einen abschreckenden Effekt in der Gesellschaft zu erzeugen, der polnische Frauen und Männer davon abhalten würde, die Grundwerte zu verteidigen, die dafür sorgen, dass Polen weiterhin zu den demokratischen Ländern gehört."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 17. Juli 2021 | 07:15 Uhr