Berlin Charité: Hinweise auf Vergiftung Nawalnys
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24. August 2020, 22:36 Uhr
Seit Sonnabend wird der prominente russische Oppositionspolitiker Nawalny von Ärzten in der Berliner Charité behandelt. Sie erklärten am Montag, sie hätten in seinem Körper Spuren einer Vergiftung gefunden. Der Oppositionelle hat sich mit seinen Recherchen zu Korruption und Machtmissbrauch in Russland viele Feinde gemacht.
Ärzte der Berliner Charité gehen davon aus, dass der Kremlkritiker Alexej Nawalny vergiftet worden ist. Darauf wiesen klinische Befunde hin, teilte die Klinik am Montag mit. Die konkrete Substanz sei bisher nicht bekannt. Die ersten Untersuchungen deuteten auf eine Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. Die Wirkung des Giftstoffs sei mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen worden.
Was sind Cholinesterase-Hemmer?
Diese Gruppe chemischer Stoffe findet vielfältig Verwendung. Sie kommen unter anderem in Pestiziden zur Schädlingsbekämpfung zum Einsatz. Aber auch in Arzneimitteln zur Behandlung von Alzheimer und anderen Formen der Demenz finden sie Verwendung. Darüber hinaus kommen sie in chemischen Kampfstoffen und Nervengiften vor.
Cholinesterase ist ein Enzym, das für die normale Funktion des Nervensystems entscheidend ist. Wirkstoffe, die das Enzym hemmen, können bei einer Vielzahl von Körperfunktionen Überaktivitäten auslösen, deren akute Folgen tödlich sein können.
Spätfolgen sind nicht ausgeschlossen
Nawalny, der sich noch immer im künstlichen Koma befinde, wird laut Charité nun mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Sein Gesundheitszustand sei ernst, es bestehe aber keine akute Lebensgefahr. Der Ausgang der Erkrankung bleibe aber unsicher, sagte eine Sprecherin. Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, könnten zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Nawalny war am Sonnabend mit einem Spezialflieger vom sibirischen Omsk in die Berliner Charité gebracht worden.
Bundesregierung und EU fordern Aufklärung der Geschehnisse
Auf den russischen Blogger, der seit Jahren ein scharfer Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin ist, hatte es in der Vergangenheit mehrfach Anschläge gegeben. Der Aktivist hat sich mit seinen Recherchen zu Korruption und Machtmissbrauch viele Feinde gemacht. Nawalny spricht dieses Thema so deutlich an wie kaum jemand sonst in Russland.
Die Bundesregierung rief Moskau am Montag erneut eindringlich zur Aufklärung der Geschehnisse auf. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas forderten in einer gemeinsamen Erklärung, "diese Tat bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz". Unterstützung bekamen sie dabei aus Brüssel. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte am Montagabend, die EU fordere eine "unabhängige und transparente Untersuchung", die unverzüglich eingeleitet werden müsse. Am Wochenende war bekannt geworden, dass die russischen Behörden die Reisen Nawalnys in Sibirien auf Schritt und Tritt beobachtet hatten.
Omsker Ärzte sprachen von Stoffwechselstörung
Nawalny war am vergangenen Donnerstag nach einer Wahlkampftour im Flugzeug nach Moskau mit großen Schmerzen kollabiert. Seine Familie und sein Team gehen davon aus, dass er durch einen Tee vergiftet wurde, den er kurz vor dem Abflug trank. Nach einer Notlandung war der Kremlkritiker in ein Krankenhaus im sibirischen Omsk gebracht worden.
Die Ärzte dort fanden nach eigenen Angaben keine giftige Substanz im Körper des 44-Jährigen. Sie gingen von einer Stoffwechselstörung aus, die den Zusammenbruch möglicherweise herbeigeführt habe. Zugleich erklärten sie, bei ihrer Diagnose keinerlei Druck von außen ausgesetzt gewesen zu sein. Mit großer Anstrengung sei es ihnen gelungen, Nawalnys Leben zu retten.
Die russischen Mediziner in Omsk hatten erst nach zwei Tagen einer Überführung von Nawalny nach Deutschland zugestimmt. Seine Familie hatte sich die Behandlung in Berlin gewünscht. Die Organisation "Cinema for Peace" organisierte ein Rettungsflugzeug, das ihn nach Berlin brachte.
Umgehend Gegenmittel verabreicht
Am Montag hieß es von den Ärzten in Omsk, sie hätten bei ihren Untersuchungen keinerlei Hinweise auf eine Vergiftung mit einem Cholinesterase-Hemmer gefunden. Man habe Nawlany aber bereits wenige Minuten nach seiner Einlieferung Atropin verabreicht, das als Gegenmittel bei solchen Vergiftungen genommen wird. Das sibirische Katastrophenschutzministerium erklärte, man sei bereit, alle Ergebnisse der bei Nawalny vorgenommenen Labortests sowie Materialproben zu übergeben. Die MRT-Aufnahmen seien bereits nach Berlin weitergeleitet worden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 24. August 2020 | 16:30 Uhr