75 Jahre Kriegsende Russland-Ukraine: Streit um das Kriegsgedenken
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09. Mai 2020, 05:00 Uhr
Einst kämpften Russen und Ukrainer Seite an Seite im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlerdeutschland. 75 Jahre nach Kriegsende stehen sich die beiden nunmehr unabhängigen Staaten als erbitterte Gegner gegenüber. Wir haben mit unseren Ostbloggern aus Russland und der Ukraine darüber gesprochen, wie sich das Kriegsgedenken seit ihrer Kindheit verändert und welche Bedeutung es heute in ihren Ländern hat.
Am 9. Mai wird in Russland an das Ende des Zweiten Weltkrieges, der Sieg über den Hitler-Faschismus, erinnert. Maxim, Du bist in Sankt Petersburg aufgewachsen. Wie erinnerst Du Dich an diesen Tag?
Maxim: Es war immer eine Attraktion für uns Kinder, wenn die großen Kriegsmaschinen und Raketen nach der Parade an unserem Plattenbauviertel vorbeirollten. Sankt-Petersburg hieß damals Leningrad und hatte immer eine besondere Geschichte, weil es die fast dreijährige Blockade während des Zweiten Weltkriegs überstanden hat. Um diese Zeit rankten sich schreckliche Erzählungen über Hunger und Kannibalismus, über Leichenberge und Parteibonzen, die in Hülle und Fülle lebten.
Unsere Großeltern, die diese Zeit selbst als Teenager erlebt hatten, wollten lieber nicht so viele Details von damals preisgeben. Doch in der Erinnerungskultur stach die Blockade irgendwie immer ein wenig heraus. Während sonst überall der Sieg gefeiert wird, schwingt in Sankt-Petersburg beim Gedenken immer ein wenig mehr das Leid mit, das der Krieg mit sich gebracht hat.
Denis, wie erinnerst Du Dich an den Jahrestag zum Kriegsende? Du hast Deine Kindheit und Jugend in den 1990er und 2000er-Jahren in Sewastopol auf der Krim verbracht. Die größte Stadt der Halbinsel mit dem Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Die Stadt wurde im Laufe des Krieges bis auf neun Gebäude komplett zerstört.
Denis: Ja, keine Familie in Sewastopol blieb vom Krieg verschont. Der Tag des Sieges war schon immer einer der wichtigsten Feiertage der Stadt. Menschen strömten massenhaft ins Stadtzentrum, um die Militärparade aus der Nähe zu sehen. In der Schule wurde großer Wert auf regelmäßige Besuche bei Kriegsveteranen gelegt, um ihnen im Alltag zu helfen. Wir alle kannten die Stadthymne "Das legendäre Sewastopol" auswendig, die von Kriegsereignissen inspiriert war.
Der Stolz auf die eigene Vergangenheit hat aber eine kritische Auseinandersetzung damit verhindert. Und das gehört zu den Gründen, warum die russische Annexion der Krim im März 2014 ausgerechnet in Sewastopol losging. Das hat nicht nur mit der Flotte, sondern auch mit einer Grundunterstützung dort zu tun.
Und heutzutage: Wie sieht das Erinnern in Euren Ländern aus?
Maxim: Der Sieg über Hitlerdeutschland ist in Russland heute ein mediales Großereignis, bei dem das Leid der Menschen immer weniger eine Rolle spielt. Stattdessen ist immer mehr die Rede vom "Siegervolk" und der "Heldengeneration". Der Sieg im Krieg, der die Sowjetunion bis zu 40 Millionen Leben kostete, wird oft als heilig bezeichnet. Ein unmissverständliches Zeichen, dass Kritik an der Kriegsführung oder der sowjetischen Außenpolitik unmittelbar vor und nach dem Krieg keinen Platz in der Öffentlichkeit hat. Am 9. Mai werden in fast allen Großstädten Paraden mit reichlich Militärfahrzeugen und Soldaten abgehalten.
Zuletzt hat sich Wladimir Putin wiederholt zur Formulierung aufgeschwungen, Russland hätte den Sieg nicht nur ohne die Alliierten, sondern auch ohne die anderen Sowjetrepubliken, etwa ohne die Ukraine geschafft. Diese hemmungslose Instrumentalisierung erreichte ihren Höhepunkt 2014 und 2015, nachdem Russland die Krim annektiert hatte. Seit dem driften die mediale Öffentlichkeit und das private Gedenken wieder ein Stück weit auseinander. Noch vor fünf Jahren hätten viele über einen Aufkleber mit Sprüchen wie "1941-1945, wir können es wiederholen" geschmunzelt, heute würden wohl deutlich mehr Leute eher den Kopf schütteln.
Denis: Die Ukraine nähert sich in ihrem Gedenken an den Weltkrieg zunehmend der europäischen Praxis an. So ist der 9. Mai zwar nach wie vor staatlicher Feiertag. Seit 2014 wird aber auch am 8. Mai an das Ende des Krieges in Europa erinnert. Ein anderer Trend der letzten Jahre besteht darin, dass man versucht, sowohl die Soldaten der Roten Armee als auch die der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die teilweise mit Nazi-Deutschland kollaboriert hatten, gleichermaßen zu würdigen. Das kommt jedoch nicht überall gleich gut an. Im Gegensatz zur Westukraine, steht man der UPA im Osten des Landes eher kritisch gegenüber. Insbesondere wegen deren Beteiligung am Massaker in Babyn Jar.
Was hat zu den Veränderungen geführt?
Maxim: Offiziell spricht der Kreml gern von einer "Politisierung" der Geschichte, wenn es um Kritik an der russischen Lesart geht. Dabei politisiert der Kreml selbst den Feiertag. Es muss aus Sicht von Putin und seiner Berater sehr verlockend gewesen sein, diesen Tag in die Politik zu zerren. Schließlich gibt es wenige Ereignisse in Russland, die tatsächlich für die allermeisten positiv besetzt sind. Der Stolz, den die Mehrheit der Russen auf diesen Sieg empfindet, sollte möglichst in Zustimmung für die derzeit Regierenden umgemünzt werden. Ähnlich positiv behaftete Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit hat Russland nicht vorzuweisen.
Denis: Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit stets kritisiert, dass Russland den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg für sich allein beansprucht und das russische Volk als Hauptleidtragenden des Krieges darstellt. Schließlich hatte die Ukraine auch mehr als acht Millionen Tote zu beklagen und war zudem komplett von Nazideutschland besetzt. Dennoch war auch hier das Jahr 2014 ein besonders wichtiger Wendepunkt: Russische Staatsmedien haben Demonstranten auf dem Maidan in Kiew als Faschisten bezeichnet, man zog Parallelen zwischen dem Krieg gegen Hitler und dem im Donbass. Dort nutzten pro-russische Separatisten das Sankt-Georgs-Band als Symbol im Kampf gegen Kiew. Gleichzeitig wurde das Band in Russland zum wichtigsten Symbol des Sieges 1945 erhoben. Spätestens da wurde klar, dass die Gedenkwege der Ukraine und Russlands auseinandergehen. Dies und die russische Beteiligung am Krieg im Osten des Landes erklärt, warum der ukrainische Botschafter in Deutschland die gemeinsame Kranzniederlegung mit seinem russischen Amtskollegen kategorisch ablehnte.
Wie wirkt sich die Coronapandemie auf das 75-jährige Jubiläum in Moskau und Kiew aus?
Maxim: Dieser Tag wird deutlich bescheidener ausfallen als ursprünglich geplant. Eigentlich sollte der 75. Jahrestag das Ereignis des Jahres werden und die ursprünglich im Mai angefangene Verfassungsreform krönen. Diese liegt jedoch diesmal auf Eis.
Aus meiner Sicht haben wir heute also eine Chance, diesen tatsächlich ehrwürdigen Tag ohne das Bombastische und ohne die allseitige Militarisierung des öffentlichen Raums in Russland zu begehen. Viele werden diesen Tag im engen Kreis der Familie begehen. Vielleicht wird sich dadurch auch zeigen, dass dieser gar nicht so viel braucht, um ein Besonderer zu sein.
Denis: In Kiew hat der Bürgermeister Vitali Klitschko klar gemacht, dass sowohl am 8. als auch am 9. Mai keine öffentlichen Veranstaltungen stattfinden dürfen. Das staatliche Erinnerungsinstitut veranstaltet einen Flashmob in sozialen Netzwerken. Dabei sollen die Leute Geschichten ihrer Familien posten. Militärparaden gibt es in Kiew schon seit Jahren keine mehr.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 08. Mai 2020 | 13:36 Uhr