Nach Mordfall an Studentin Unis in Russland: Jeden Tag vom Professor belästigt
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22. November 2019, 05:00 Uhr
Der mutmaßliche Mord eines Geschichtsprofessors an seiner Geliebten in Sankt Petersburg hat eine Debatte über Sexismus und sexuelle Gewalt an russischen Universitäten ausgelöst. Betroffene Frauen berichten von alltäglichen Übergriffen.
Oleg Sokolow musste eine schusssichere Weste und einen Helm tragen, als die Polizei ihn diese Woche noch einmal zum Tatort brachte. Zu groß war die Angst, jemand könne die Justiz selbst in die Hand nehmen. Sokolow zeigte den Polizisten in seiner Wohnung, wie er seine Freundin zuerst erschoss und zerstückelte und danach Teile ihres Körpers in einem Fluss direkt vor seiner Haustür mitten im Petersburger Stadtzentrum entsorgte.
Die Geschichte des 63-jährigen Geschichtsprofessors, der seine 39 Jahre jüngere Freundin vermutlich aus Eifersucht umbrachte, beschäftigt Russland seit fast zwei Wochen. Einerseits wegen Sokolows exponierter Stellung als Professor an einer der Eliteuniversitäten des Landes. Aber auch, weil die Boulevardpresse den Fall minutiös ausschlachtet: Überwachungsvideos, Details der Ermittlungen und sogar private Chats des Paares wurden veröffentlicht.
Sexuelle Anspielungen waren Alltag
Doch das private Morddrama hat unerwartet auch eine Diskussion über Sexismus und sexuelle Gewalt an russischen Universitäten und das Verhältnis zwischen Professoren und Studentinnen ins Rollen gebracht. Denn die Ermordete war nicht nur die junge Geliebte des Professors, sondern auch seine Studentin. Binnen weniger Tage meldeten sich gleich mehrere Frauen, die ebenfalls an der Geschichtsfakultät der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg studiert hatten und die dortigen Zustände nun an den Pranger stellen.
"Wir wussten, dass Sokolow ein Verhältnis mit einer Studentin hat. Als wir dann die Nachricht von dem Mord gelesen haben, waren wir schockiert", erinnert sich die 32-jährige Maria Warakhalina. In Gesprächen mit Kommilitoninnen sei es oft um Sexismus und alltägliche Übergriffe gegangen. "Sexuelle Anspielungen gegenüber Studentinnen galten als harmloser Witz", sagt Warakhalina. Sprüche wie:
'Mädchen sollten lieber auf Rendezvous gehen statt zu studieren oder könnten besser mit dem Hintern wedeln als Prüfungen schreiben' sind Alltag gewesen.
Unterschiedliche Bewertung von Sexismus
In sozialen Netzwerken finden sich weitere Berichte. So erinnert sich die Petersburgerin Julia Tschernjawskaja in einem Facebook-Post an ihre Studienzeit vor zehn Jahren: "An dieser Uni gibt es auch andere Professoren, die es für normal halten eine Beziehung mit einer Studentin anzufangen und sogar Kinder mit ihnen zu haben. Das schlimmste ist jedoch die Atmosphäre eines absolut altertümlichen Sexismus, die dort herrscht". So sei es an der Tagesordnung gewesen, von Professoren Kommentare über "schöne Beine" zu bekommen.
Auch unter Hochschullehrern wird der Fall kontrovers diskutiert. "Ich frage mich, wo diese Balance ist zwischen einer gesellschaftlichen Aufsicht wie zu Sowjetzeiten und dem Standpunkt, dass das Privatleben niemanden etwas angeht", meint etwa die Politikwissenschaftlerin Swetlana Bodrunowa von der Petersburger Universität.
Ihr Kollege Sergej Medwedjew von der Higher School of Economics kritisierte zwar den verbreiteten Sexismus an Universitäten, sprach sich jedoch gegen ein Verbot solcher Beziehungen aus. Schließlich gehe es meistens um erwachsene Menschen, sagte er dem Online-Portal der britischen BBC.
Frauenrechtlerinnen: Übergriffe sind keine Privatsache
Russische Frauenrechtlerinnen plädieren dafür, dass Verhältnisse zwischen Lehrenden und Studierenden zwar nicht gesetzlich, aber durch einen ethischen Kodex der Hochschulen geregelt werden. So sagt etwa die Anwältin und Frauenrechtlerin Maria Dawtjan:
In zivilisierten Ländern wird oft im Arbeitsvertrag festgeschrieben, dass private Verhältnisse mit Studierenden untersagt sind.
Eine Partnerschaft müsse auf Gleichheit beruhen, an den Universitäten herrsche jedoch ein hierarchisches Verhältnis. Darum könnten die Beziehungen nicht toleriert werden. Am wichtigsten sei für sie aber, dass Universitäten solche Fälle eben nicht als Privatsache behandeln.
Denn bereits mehrfach sollen Studierende Übergriffe des nun beschuldigten Sokolows gemeldet haben, teils gewalttätige. So soll er eine andere ehemalige Geliebte bereits 2008 an einen Stuhl gefesselt und geschlagen haben. Polizeiliche Untersuchungen oder Disziplinarmaßnahmen vonseiten der Hochschule habe es aber nie gegeben, berichtet die Zeitung "Moskowski Komsomolez". Daher ist sich Frauenrechtlerin Dawtjan sicher: "Hätte die Petersburger Universität das so gehandhabt wie in anderen Ländern üblich, wäre Sokolow wahrscheinlich schon längst kein Professor mehr gewesen:"
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 22. November 2019 | 17:45 Uhr