30 Jahre danach Samtene Revolution: "Tschechen reden den Erfolg unnötig klein"
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16. November 2019, 18:21 Uhr
Vor 30 Jahren begann in Prag die Samtene Revolution. Sie führte binnen sechs Wochen zu einem Ende des kommunistischen Regimes in der damaligen Tschechoslowakei. Die Tschechen haben seitdem sehr viel erreicht, vor allem in der Wirtschaft. Dennnoch sind viele Bürger unzufrieden.
Im November 1989 war ich Schülerin der sechsten Klasse im mährischen Prostějov (deutsch: Proßnitz). Am 17. November wusste man in meiner Stadt nur sehr wenig über das Geschehen in Prag. Das Staatsfernsehen der kommunistischen Tschechoslowakei berichtete zwar über eine Demonstration in Prag. Wie brutal aber die Polizei zu den Demonstranten war, erfuhr man an dem Tag nur vom Radio Freies Europa, das aus München sendete: Die Demonstranten wurden eingekesselt und niedergeprügelt. Es gab fast 600 Verletzte, mehrer von ihnen schwer. Erst in den folgenden Tagen wurden Videoaufnahmen von der Prager Demonstration gezeigt - in Prostějov zum Beispiel auf Fernsehern, die in den Schaufenstern verschiedener Geschäfte im Stadtzentrum standen. Studenten fuhren durchs ganze Land, um die Aufnahmen des brutalen Vorgehens zu verbreiten. Das weiß ich aus Erzählungen meiner Mutter.
Am 20. November versammelten sich erste Menschen im Stadtzentrum von Prostějov, um die Demonstranten in Prag zu unterstützen. Diese Versammlung wurde noch von Spitzeln des tschechischen Geheimdienstes dokumentiert. Noch war nicht sicher, wie der Aufstand enden würde.
Historiker wissen inzwischen, dass die Armee und die sogenannten Volksmilizen sich in den ersten Tagen noch auf eine gewaltsame Niederschlagung der Massenproteste vorbereiteten - wozu es zum Glück nicht kam.
Wende in der Schule
Einige Wochen später erlebten wir auch in der Schule geradezu etwas Revolutionäres. Auf einmal brauchten wir unsere Lehrerin nicht mehr als "Genossin Lehrerin" anzusprechen, sondern durften "Frau Lehrerin" sagen. Stark wurde diskutiert, ob man noch Russisch unterrichten soll oder eher ab sofort eine westliche Fremdsprache. Die Russischlehrer mussten schnell Deutsch und Englisch nachholen, um diese Sprachen ab dem nächsten Schuljahr anstatt Russisch unterrichten zu können. Die Direktorin der Schule musste gehen.
30 Jahre danach
30 Jahre später lebe ich in Prag - zwei Minuten zu Fuß von der Nationalallee (Narodní třída) entfernt, wo sich der brutale Einsatz der kommunistischen Polizei am 17. November abgespielt hat. Traditionell gehe ich jedes Jahr am 17. November abends zur dortigen Gedenkstätte, im Volksmund "Hände" genannt. Die Skulptur zeigt mehrere Hände mit der Siegesgeste V. Sie erinnern daran, dass die Demonstranten damals den mit Knüppeln bewaffneten Polizisten zuriefen: "Wir haben leere Hände". An der Gedenkstätte werden Kerzen angezündet und Kränze niedergelegt.
Demonstrationen damals und heute wieder
Jetzt, 30 Jahre nach der Wende, wird in Prag wieder demonstriert. Vor Kurzem wurden die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Premierminister Andrej Babiš in der Storchennest-Affäre eingestellt. Die Demonstranten fordern deswegen den Rücktritt der Justizministerin, außerdem solle der Regierungschef seine Firma "Agrofert" und sein Medien-Imperium loswerden. Wenn er dem Aufruf nicht folgt, könne es zu "einer großen Welle" von Protesten kommen, warnen die Demonstranten. 250.000 Menschen hatten bereits im Sommer auf dem Prager Letná-Areal gegen Babiš demonstriert. Es war die größte Demonstration seit der Wende. Für dieses Wochenende ist wieder eine Versammlung angekündigt. Ob wieder so viele Menschen kommen werden, ist unklar. Sicher ist aber, dass Andrej Babiš das Ultimatum der Demonstranten abgelehnt hat.
30 Jahre nach der Wende ist Babiš ein Symbol für die gespaltene tschechische Gesellschaft. Einerseits brachte seine Politik Tausende Demonstranten auf die Straße, anderseits ist er weiter in allen Umfragen der beliebteste Politiker Tschechiens und seine Partei "ANO-Bewegung" würde nach aktuellen Umfragen die Wahl gewinnen, mit einem großen Vorsprung vor allen anderen Parteien.
Wirtschaftswunderland Tschechien
Materiell geht es den Tschechen 30 Jahre nach der Wende sehr gut. Auch das trägt zur Beliebtheit von Andrej Babiš bei. Obwohl man für den Erfolg eher seine Vorgänger loben sollte, die die zusammenbrechende sozialistische Planwirtschaft zu einer modernen Marktwirtschaft umgebaut haben. Tschechien ist heute das reichste Land des ehemaligen Ostblocks. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf in Kaufkraftparität liegt laut Eurostat bei 90 Prozent des EU-Durchschnitts. Von den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern kommt nur Slowenien diesem Niveau nahe.
Damit hat Tschechien beim Lebensstandard schon längst einige alten EU-Staaten wie Griechenland und Portugal überholt; es nähert sich Spanien und Italien an. Tschechien hat die niedrigste Arbeitslosigkeit der EU und gilt inzwischen sogar als attraktives Arbeitsland für junge qualifizierte Menschen aus den alten EU-Ländern. Der Durchschnittslohn hat sich seit 1990 verzehnfacht und liegt aktuell bei 35.000 Kronen, umgerechnet 1.370 Euro. Dennoch verdient man hierzulande immer noch deutlich weniger als in Deutschland. Damit sich das ändert, muss sich Tschechien von der "verlängerten Billiglohn-Werkbank" des Westens zu einem Technologie-Land wandeln.
Typisch tschechische Selbstkritik
Eine typisch tschechische Eigenschaft ist, kritisch über sich selbst zu sprechen. Ich sage immer: Wenn jemand schlecht über Tschechien spricht, dann ist es sicher ein Tscheche! Das beobachte ich auch bei der Einschätzung der letzten 30 Jahre.
Auch wenn Tschechien unter den mittel- und osteuropäischen Ländern weit vorne liegt und bald den Lebensstandard der westlichen Länder erreichen kann, reden die Tschechen ihren Erfolg gerne - und unnötig - klein, etwa mit Sätzen wie: "Unsere politische Kultur ist noch nicht wie im Westen" oder "Wir sind ein kleines Land", "Wir sind noch nicht soweit" und "Wir müssen noch lernen". Ich finde: Das ist alles Quatsch! Tschechien ist ein modernes, wohlhabendes Land in Mitteleuropa. Das merke ich nicht nur in Prag, sondern auch im mährischen Prostějov, wo meine Eltern immer noch leben. Wir sollten stolz darauf sein, was wir in den letzten 30 Jahren erreicht haben.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 17. November 2019 | 07:15 Uhr