"Happy Hearts" Estland: Inklusion durch Rollstuhltanz
Hauptinhalt
25. November 2019, 05:00 Uhr
In Estland gibt es kaum öffentliche Angebote für Kinder mit Behinderungen. Deshalb hat eine Frau ein besonderes Kinderzentrum gegründet. Dessen inklusive Tanzgruppe nimmt an internationalen Wettbewerben teil.
Im Schneidersitz gibt die Tanztrainerin ihrer Gruppe gezielt russische Anweisungen: "Tanzen, Tanzen. Genauso! Der Blick nach unten! Und dann nach oben! Genau!" Die 15 in schwarz-goldene Gewänder gehüllten Kinder und Jugendlicher folgen fokussiert jeder vorgegebenen Bewegung: die einen im Stehen, die anderen im Rollstuhl.
"Happy Hearts" heißt die außergewöhnliche Tanzgruppe in der estnisch-russischen Grenzstadt Narwa und gehört zum dortigen Kinderzentrum "Matwejka", dem einzigen inklusiven in Estland. Gegründet wurde das vor sieben Jahren von Rita Ternos, nachdem ihr Sohn Matwej mit einer Behinderung auf die Welt kam. Heute ist Matwej 12 und eines der engagiertesten Mitglieder der Tanzgruppe "Happy Hearts".
Uns wurde geraten Matwej einfach im Krankenhaus zu lassen und nicht mit nach Hause zu nehmen. Wir haben uns für die Familie entschieden. Ein Kind muss mit Vater und Mutter aufwachsen.
Teure Betreuung mit Erfolg
15 Kinder werden im Zentrum Matwejka jeden Tag betreut. Die EU sponsert das Projekt mit fast 10.000 Euro monatlich. Doch allein für die Löhne der 20 Mitarbeiter gehen zwei Drittel des Geldes drauf. Miete, Lebensmittel und Therapieangebote kosten zusätzlich. Rita hat selbst ihren eigenen Kühlschrank für die Küche des Zentrums gespendet, lebt derzeit ohne.
Dennoch seien alle im Zentrum glücklich über das Angebot, sagt Schneiderin Julia. Sie ist gehbehindert und war lange arbeitslos, bevor sie ins Matvejka gekommen ist: "Das ist unsere zweite Familie, eine große Familie, die zusammenhält. Wir feiern hier gemeinsam Feste und wir trauern gemeinsam."
Wettkampf in Russland als letzte Chance
Derzeit näht Julia neue Kostüme für die Gruppe. Denn gemeinsam bereiten sie sich auch auf das größte Abenteuer der Tanzgruppe "Happy Hearts" vor, eine Reise ins russische Sotschi, 2.500 Kilometer von Narwa entfernt. Dort findet jedes Jahr ein Wettbewerb für inklusive Tanzgruppen statt. Mit dem Zug legt die Gruppe die zwei Tage lange Fahrt quer durch Russland zurück. Eine große Anstrengung für die Kinder und Betreuer.
Doch der Wettbewerb ist existenziell für das Kinderzentrum Matwejka, erklärt Gründerin Rita Ternos: "Das ist das letzte Jahr. Es gibt nichts mehr, woraus wir noch Geld schöpfen könnten. Es fällt immer schwerer die Hoffnung nicht aufzugeben." Sollte die Gruppe in Sotschi gewinnen, hofft sie auf eine finanzielle Unterstützung durch die estnische Regierung.
Hoffnung für die Zukunft von "Matwejka"
Der Wettkampf in Russland ist dabei kein Zufall. Narwa liegt zwar in Estland, jedoch sind 95 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen. Nun müssen sich die estnischen Kinder gegen Tänzer aus ganz Russland durchsetzen. Die Gruppen sind immer gemischt: Kinder mit und ohne Behinderung. Wer in Sotschi einen Sieg holt, qualifiziert sich für die großen internationalen Wettkämpfe in Moskau.
Die russischen Gruppen setzen auf Nationalstolz und Folklore. Doch am Ende entscheidet sich die Jury tatsächlich für "Happy Hearts". Die Verkündung löst riesige Freude bei den Kindern aus Narwa und Erleichterung bei Gründerin Rita Ternos aus. Auch für die finanzielle Zukunft des einzigen inklusiven Kinderzentrums Estlands gibt es Hoffnung. Kurz nach dem Wettbewerb in Sotschi hat sich zumindest ein privater Sponsor für das Projekt gefunden. So können Matwej und die anderen ersteinmal weiter tanzen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 22. November 2019 | 17:45 Uhr