Organisierte Kriminalität rüstet auf Ermittlungen zu Krypto-Handys in Thüringen
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31. Juli 2021, 06:00 Uhr
Sie waren so etwas wie das Whatsapp für Gangster: Kryptohandys der Firma Encrochat. Jahrelang bot das Unternehmen seine Dienste der weltweiten Organisierten Kriminalität an. Komplett verschlüsselte Mobiltelefone, über die Kriminelle ihre Geschäfte abwickeln konnten. Französische und niederländische Behörden knackten Anfang 2020 den Server von Enchrochat. Jetzt laufen europaweit Ermittlungen - auch in Thüringen.
Das Drogengeschäft war offenbar bestens durchgeplant. Am 1. April vergangenen Jahres soll Martin U. einem seiner mutmaßlichen Bandenmitglieder das Kaufgeld ausgehändigt haben. Gegen 8:40 Uhr bei Nohra übergab er 104.500 Euro an den Mann. Der wiederum soll sich dann zwischen 9:04 Uhr und 9:27 Uhr bei Markvippach im Landkreis Sömmerda mit dem Drogenlieferanten mit dem Codenamen "mistakenbull" getroffen haben.
Dieser soll rund zehn Kilo Crystal Meth im Gepäck dabeigehabt haben, die an diesem Tag offenbar den Besitzer wechselten und dann an andere Dealer in Thüringen weiterverkauft wurden. Das geht aus internen Unterlagen hervor, die MDR THÜRINGEN einsehen konnte.
In den damals kommenden vier Wochen bis zum 8. Mai sollen noch mindestens fünf weitere Geschäfte in dieser Größenordnung gelaufen sein. Insgesamt sind offenbar knapp 100 Kilo Drogen, darunter Marihuana, Kokain und Crystal Meth auf diese Weise nach Thüringen gelangt. Teilweise wurden, so der Verdacht, pro Woche zehn Kilo Drogen in den Raum Erfurt gebracht - durch die Gruppe um Martin U.
Daten aus geknackten Servern
Am 6. Mai dieses Jahres klickten dann die Handschellen. In einer großangelegten Razzia wurden neben Martin U. sein Bruder und drei weitere Verdächtige, unter ihnen ein Bundeswehrsoldat, festgenommen. Sie sitzen alle in Untersuchungshaft und warten auf die Anklage der für Organisierte Kriminalität spezialisierten Staatsanwaltschaft Gera.
Dieser Prozess, sollte er kommen, dürfte in die Thüringer Justizgeschichte eingehen. Denn dann werden die zentralen Beweise aus einer der größten Polizeioperationen gegen die weltweite Organisierte Kriminalität stammen. Es handelt sich um Daten und Chatprotokolle aus den geknackten Servern der Firma Encrochat.
Das europäische Unternehmen hatte sich seit Jahren auf besonders gut verschlüsselte Handys spezialisiert. Sogenannte End-to-End-Geräte, die abseits von jedem normalen Handyanbieter funktionierten. Sie waren für die Polizei jahrelang nicht zu entdecken und das machte sie besonders interessant für die Organisierte Kriminalität. Deshalb nutzten offenbar auch Martin U. und seine mutmaßlichen Komplizen diese Geräte.
Rund 50 Verfahren in Thüringen
Anfang 2020 gelang es aber französischen und niederländischen Fahndern, den Server der Firma im niederländischen Roubaix zu infiltrieren. Dabei stellten sie fest, dass zu den Kunden von Encrochat weltweit Zehntausende Kriminelle gehörten, besonders im Bereich Drogenhandel.
Über Monate konnten sie die Chatverläufe teilweise live mitlesen und speichern. Im Juni 2020 schlug die Polizei dann zu. Der Server wurde stillgelegt, die Firma musste schließen und in der Folge kamen Tausende Gangster hinter Gitter. In Deutschland sind inzwischen 2.250 Verfahren eingeleitet worden. Es gab seit dem vergangenen Herbst 750 Festnahmen.
Nach MDR THÜRINGEN-Informationen laufen in Thüringen derzeit rund 50 Verfahren im Zusammenhang mit den Kryptohandys von Encrochat. Gegen 16 Verdächtige wurde ein Haftbefehl erlassen. Bisher konnte das Landeskriminalamt (LKA) Vermögen im Wert von vier Millionen Euro sicherstellen. Insgesamt wurden 28 Thüringer als Nutzer von Encrochat-Handys identifiziert. Darunter auch die Gruppe um Martin U.
Hinweise auf massenhafte Drogendeals
Die Daten aus den Encrochat-Chats geben der Polizei offenbar einen tiefen Einblick in die Drogengeschäfte - auch in Thüringen. Ein hochrangiger Ermittler sagte MDR THÜRINGEN, für die Polizei sei das Scheunentor nicht mehr zu einem Spalt offen, sondern sehr weit. Die Chatverläufe geben offenbar Hinweise und Informationen zu Hunderten bisher völlig unbekannten Drogendeals in Thüringen in den vergangenen Monaten. Es geht offenbar um Drogentransporte im Kilobereich, die teilweise pro Woche in den Freistaat geschmuggelt wurden. Auch die Gruppe um Martin U. war scheinbar lange dabei.
So sollen nur wenige Tage nach dem Deal vom 1. April vergangenen Jahres zwei Kilo der Aufputschdroge Koka-Flex für 66.000 Euro gekauft worden sein. Nur kurz danach kaufte die Gruppe offenbar zehn Kilo Crystal für 120.000 Euro. Einige Tage später sollen dann 30 Kilo Marihuana für 130.000 Euro den Besitzer gewechselt haben - und so ging das scheinbar munter weiter, bis die Fahnder des Thüringer LKA und die OK-Staatsanwaltschaft Gera dem ganzen einen Riegel vorschoben.
Mehrere Millionen Euro Vermögen eingefroren
Dabei waren sie auch nicht zimperlich, was die mutmaßlich kriminellen Gewinne der Gruppe anbelangte. Bei der Razzia Anfang Mai sollen mehrere Millionen Euro an Vermögen eingefroren worden sein. Darunter Immobilien in und um Erfurt oder hochpreisige Luxusautos. Besonders Martin U. war geschäftlich umtriebig. Nach MDR THÜRINGEN-Recherchen ist er an mindestens zwei Firmen beteiligt, bei denen der Verdacht besteht, dass die Drogengelder dort gewaschen wurden. Er soll Immobilien besitzen, unter anderem auch ein Haus in Frankreich, das als mutmaßliche Fluchtmöglichkeit hätte dienen können. Sein Anwalt reagierte auf eine entsprechende Anfrage von MDR THÜRINGEN bis zum Redaktionsschluss nicht.
LKA gründete geheime Arbeitsgruppe "Nadel"
Für das Thüringer LKA waren und sind die Daten aus den Encrochat-Servern eine logistische Herausforderung. Ab Frühjahr 2020 übermittelten die Franzosen die Daten mit Deutschlandbezug an das Bundeskriminalamt (BKA). Das wertete die Chats aus und ordnete sie Anhand der Geodaten den jeweiligen Tatorten in den Ländern zu. Dann wurden Datenpakete an die zuständigen Landeskriminalämter gesandt.
Im Thüringer LKA wurde im Herbst vergangenen Jahres dann eine Arbeitsgruppe mit dem Codenamen "Nadel" gegründet. Neun Beamtinnen und Beamten werteten die Chats aus. Das Problem: die Tatverdächtigen hatten in den Chats fast alle Codenamen, wie der bereits erwähnte "mistakenbull". Das bedeutete, mit den Geodaten und weiteren Erkenntnissen mussten die Handys erst konkreten Personen zugeordnet werden. Was aber wohl in vielen Fällen gelang.
LKA-Vizepräsident Heiko Schmidt wollte sich zu diesen Ermittlungsdetails nicht äußern. "Generell kann man sagen, dass ein großer Teil der Personen, deren Kommunikation in Encrochat überwacht oder dekryptiert wurde, uns schon bekannt war. Also schon im Bereich des Rauschgifthandels schon seit Jahren agieren - auch schon Ermittlungsverfahren unterlegen waren. Da haben wir jetzt, was die Anzahl der Personen betrifft, nicht nur neue Personen, sondern auch viele alte Bekannte wiedergetroffen", sagte Schmidt MDR THÜRINGEN.
Streit um Zulassung als Beweise vor Gericht
Der Gruppe um Martin U. könnte bei einer möglichen Verurteilung lange Haftstrafen drohen. Das hängt aber auch davon ab, ob die Chats aus den geknackten Servern als Beweise verwertet werden können. Erst Anfang Juli machte eine Meldung aus Berlin Schlagzeilen. Das dortige Landgericht hatte in einem Verfahren diese Daten nicht als Beweise zugelassen.
Die Berliner Richter begründeten das unter anderem damit, dass gegen die Angeklagten zuvor kein Tatverdacht vorgelegen hätte. Den hätten die Franzosen erst mit ihrem massenhaften Abgreifen von Daten geliefert und es sei fraglich, ob das nach deutschem Recht korrekt gewesen sei. Denn hier könne ein Handy nur nach einem konkreten Tatverdacht gegen eine Person überwacht und ausgelesen werden. Deshalb belegten sie die Chats mit einem Verwertungsverbot als Beweise. Nun liegt der Fall in der nächsten Instanz.
Inzwischen gibt es aber eine Reihe von anderen deutschen Landes- und Oberlandesgerichten, die in entsprechenden Verfahren die Chats und Daten aus den geknackten Encrochat-Servern als Beweise zugelassen haben. Damit wird es spannend, wie die Thüringer Gerichte in dem Fall entscheiden werden.
Die Datenfunde haben auch im Landeskriminalamt deutlich gemacht, dass es neben einer moderneren Rechtsprechung und einer stärkeren Gewinnung hochspezialisierten Personals für die Polizei, auch einer noch besseren IT-Technik bedarf. "Wir werden im digitalen Bereich weitere Ressourcen brauchen, wir werden bessere Hard- und Software brauchen. Allein um diese riesigen Datenmengen auszuwerten, müssen wir damit rechnen, dass sich das exponentiell steigern wird und wir mit dieser Steigerung auch Schritt halten müssen", so der Vizepräsident des Thüringer Landeskriminalamtes.
Quelle: MDR THÜRINGEN
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 31. Juli 2021 | 19:00 Uhr
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