Oral History Mein 9. November - wie wichtig Geschichten für die Geschichte sind
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09. November 2024, 20:13 Uhr
Am 9. November 1989 fällt überraschend die Mauer, die Deutschland 28 Jahre lang geteilt hat. Das Ende der DDR wird damit eingeläutet. Seitdem versuchen Historiker, das Thema aufzuarbeiten. Mit verschiedenen Methoden. Eine davon: Oral History.
- Warum J. Giesen nicht zurück nach Thüringen will
- Wie Frank Strempel kurz vor der Grenze geschnappt wurde
- Was Agnès Arp den Deutschen wünschen würde
Agnès Arp sammelt Geschichten. Geschichten aus der DDR, aus der Wendezeit, Transformationsgeschichten. Und das seit mehr als 20 Jahren. Und sie sammelt die Geschichten nicht nur, sie veröffentlicht sie auch immer wieder.
Die promovierte Historikerin arbeitet an der Universität Erfurt und hat gleich doppelt einen besonderen Blick auf das Thema. Denn zum einen kommt sie aus Paris und blickt damit komplett von außen auf die Vereinigung der Deutschen, zum anderen arbeitet sie mit einer besonderen Methode: Oral History. Der Begriff kommt aus dem Englischen und es geht im Grunde darum, Informationen aus den Berichten von ganz normalen Menschen zu ziehen.
Zum Aufklappen: Was ist Oral History?
Oral History ist eine geschichtswissenschaftliche Methode, mündliche Erinnerungsinterviews mit Beteiligten und Betroffenen historischer Prozesse zu führen und (in der Regel) gleichzeitig in reproduzierfähiger Weise auf einem Tonträger festzuhalten, um auf diese Weise rückblickend Informationen über mündliche Überlieferungen, vergangene Tatsachen, Ereignisse, Meinungen, Einstellungen, Werthaltungen oder Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten. (Quelle: Supra Lernplattform)
Für Arp speist sich die Geschichtsschreibung aus vielen verschiedenen Quellen, "die, wenn man so will, alle subjektiver Natur sind. Denn auch die Akten in den Archiven wurden alle von Menschen geschrieben. Diese Akten werden oft vorschnell als faktenbasiert eingestuft".
Bei der Auswertung der biographischen Erzählungen dagegen wird eine gewisse Subjektivität vorausgesetzt. Und gerade die macht die Erzählungen so spannend für Agnès Arp. Nicht nur, dass die Menschen unterschiedlich gelebt haben, sie erinnern sich auch unterschiedlich an die DDR und die Wendezeit. Die Oral History bewertet diese Unterschiede aber nicht, sie berücksichtigt sie einfach bei der Auswertung.
Keine Rückkehr nach Thüringen denkbar
Frau J. Giesen beispielsweise war ein Kind, als die Mauer fiel. Dennoch erinnert sie sich an ihre Kindheit in der DDR sehr gut und als sehr behütet. Sie wurde in Thüringen geboren, ist im Vogtland aufgewachsen. Heute weiß sie zwar, dass ihre Eltern von der Stasi beobachtet wurden, diese hätten das Thema aber immer von den Kindern ferngehalten.
Es ist jetzt nicht so, dass man was vermisst hat.
Ein Jahr ging Giesen in den USA zur Schule. Heute ist sie froh, dass das nach dem Mauerfall möglich war. Als Kind war das allerdings kein Thema für sie. "Ich kann mich nicht erinnern, dass mir etwas gefehlt hat. Wir sind ja auch in den Urlaub gefahren. Wir sind ja auch ins Ausland gefahren, soweit das möglich war. Und es ist jetzt nicht so, dass man was vermisst hat."
Und auch, wenn die Familie die Wiedervereinigung begrüßt hat, hört Giesen bestimmte Sätze immer wieder: "Es war im Osten ja nicht alles schlecht, es war auch vieles besser. Und das teile ich auch. Das Schulsystem zum Beispiel. Es wurde ja erst einmal alles plattgewalzt, als die Wende war, ohne erst mal zu gucken, ob das vielleicht doch gar nicht so schlecht war, was wir da drüben so unterrichtet bekamen oder gemacht haben."
Insgesamt hadert die Familie nicht mit der Geschichte und dem Ende der DDR. "Das System, das war nicht gut. Es ist gut, dass das vorbei ist. Aber dass man das so unkritisch gesehen hat! Es war erstmal alles schlecht, und der Westen musste sich quasi überstülpen."
Ich bin nicht so der Mensch für Veränderungen.
Zurückzugehen in den Osten ist für J. Giesen kein Thema. Allerdings nicht aus politischen Gründen. Sie hatte nach ihrem Auslandsjahr in München Medizin studiert und da liegt auch bis heute ihr Lebensmittelpunkt. "Ich bin nicht so der Mensch für Veränderungen."
Ostdeutsche Herkunft nicht mehr versteckt
Doch eines hat sich inzwischen geändert. Am Anfang hat sie eher verschwiegen, dass sie aus dem Osten kommt, "weil das so ein bisschen negativ gesehen wurde. Also ein bisschen abwertend. Da hat man sich nicht immer gleich so geoutet."
Auch beim Studium wurden aus ihrer Sicht die jungen Menschen unterschiedlich behandelt. "Da fand ich schon, dass es irgendwie so eine Zweiklassengesellschaft war. Da war schon noch eine Trennung spürbar.“ Das ist heute anders. "Die Leute finden das eher interessant und sehen es positiv."
Bisher kein Lehrstuhl für Oral History in Deutschland
Agnès Arp forscht seit mehr als 20 Jahren über die Wendezeit. Es ist ihr wichtig, die Methode der Oral History innerhalb der Geschichtswissenschaft an einer Universität regelmäßig systematisch anzubieten. "Es gibt bisher noch keinen Lehrstuhl in Deutschland, der das anbietet."
Inzwischen hat sie mehrere Bücher herausgegeben. Eines davon erschien 2009 unter dem Titel: "DDR - mein Land verschwand so schnell“. Ein anderes wird am 14. November in Erfurt vorgestellt. "Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenswege"
Zum Aufklappen: Buchvorstellung am 14. November in Erfurt
Wann und wo?
14.11., 18:30 Uhr im Café Nerly in der Erfurter Markstraße 6
"Wie wirkt die DDR-Gesellschaft bis heute im Leben der Ostdeutschen nach? Dieser Frage gehen die französischen Historikerinnen Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann in ihrem Buch nach. Die von ihnen mit 30 ehemaligen DDR-Bürger:innen geführten lebensgeschichtlichen Interviews lassen Nähe und Unmittelbarkeit, Zwischentöne und Differenzierungen zu - jenseits der oftmals einseitigen öffentlichen Wahrnehmung der DDR als Diktatur. Die Interviews spiegeln die Entwertung, Wiederaneignung und Aufwertung ostdeutscher Lebenswege und zeigen eine vielfältige Sicht auf ostdeutsche Wirklichkeiten." (Quelle: Veranstalter)
Und sie sammelt weiter. Geschichten aus der Wendezeit. Auf der Webseite des Instituts kann man mehr dazu erfahren. So wie die von Frank Strempel.
"Ich habe den Mauerfall verpennt“
Auch Frank Strempel hat seine Wende-Geschichte erzählt. Er kommt aus Weimar, aus einem Elternhaus, das nicht gut auf den Staat zu sprechen war. Er hätte gern Sport oder Kunst studiert, das wurde ihm aber verwehrt, sagt er. Er ist dann Tischler geworden und hat gern in diesem Beruf gearbeitet.
Direkt mit 18 stellte Strempel einen Ausreiseantrag und verweigerte den Wehrdienst. "Damit war ich ein beschriebenes Blatt, hatte oft die Stasi zu Hause. Bei jeder Personenkontrolle war man fällig mit oder ohne Ausweis. Ja, man hat halt wirklich gemerkt, das ist ein Staat, der auf Überwachung aus ist. Und es hat auch relativ gut funktioniert."
Im Sommer 1989 wollte er dann, wie viele seiner Freunde, über Ungarn in den Westen gehen. Aber auch für Ungarn brauchte man ein Visum. Mit seinem Ausreiseantrag bekam Frank Strempel das aber nicht. "Alle meine Freunde waren weg, einige waren schon im Westen. Das waren so zwei, drei Wochen, als alles in der Luft hing."
Und so beschloss er, es gemeinsam mit einem Kumpel ohne Visum zu versuchen. Ein Motorradrennen in der Nähe von Bratislava sollte der Vorwand sein, falls jemand fragt. Und dann blieben die beiden einfach im Zug sitzen und fuhren bis zur Grenze. Auch über die Donau kamen sie. "Nachts, mit einem geklauten Schlauchboot. Das war so ein kleines Paddelboot."
Es war, wie man es sich vorstellt. Wir hatten Säcke über dem Kopf, wie die Schwerverbrecher.
Aber dann, kurz vor der österreichischen Grenze, wurden sie doch noch geschnappt. Von ungarischen Grenzern. "Dann ging es nach Bratislava, ins reguläre Gefängnis, das war übel. Da gab es auch Schläge," erinnert er sich.
Heimkehr per Flugzeug mit der Stasi
Von dort hat ihn dann die Stasi mit dem Flugzeug abgeholt. "Es war, wie man es sich vorstellt. Wir hatten Säcke über dem Kopf, wie die Schwerverbrecher. Aber es gab keine Schläge, es gab Essen, und wir durften duschen." Dann wurden die Gefangenen verteilt auf die einzelnen Bezirke. Strempel kam wieder nach Erfurt. "Nach anderthalb Wochen hat man mich da rausgelassen, weil die Knäste offensichtlich so voll waren."
Jetzt blieb ihm nur noch, darauf zu warten, dass sein Ausreiseantrag bewilligt würde. Aber das sei für einen Facharbeiter wie ihn eher unwahrscheinlich gewesen, sagt er. Und mit einem Mauerfall rechnete zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Ich saß am 10. November morgens am Frühstückstisch mit ein paar Angestellten im Hospiz und der Pfarrer erzählte, die Mauer ist offen.
Strempel kündigte und fing an, als Hausmeister in einem Hospiz in Weimar zu arbeiten. Die Kirche als Arbeitgeber war ihm lieber als der Staat.
Und genau dort erreichte ihn dann auch die Nachricht vom Mauerfall. Handys und Internet gab es damals ja noch nicht. "Ich saß am 10. November morgens am Frühstückstisch mit ein paar Angestellten im Hospiz und der Pfarrer erzählte, die Mauer ist offen." Strempel machte sich auf in den Westen und landete in Mülheim an der Ruhr, wo Freunde von ihm lebten. "Das ist ja mal ganz gut, wenn man schon irgendwo ein Nest hat."
Ich bin ja aus diesem Staat nicht abgehauen, weil mir die die Landschaft nicht gefallen hätte. Oder die Menschen.
Schnell fand er Arbeit als Tischler und lebte sich ganz gut ein. Doch auch das änderte sich. Immer wenn Frank Strempel nach Weimar zu Besuch kam, fiel es ihm schwer, wieder abzureisen. "Hier war mehr los. Es gab eine immense Aufbruchstimmung für junge Leute."
Nach zweieinhalb Jahren dachte Strempel darüber nach zurückzugehen. "Ich bin ja aus diesem Staat nicht abgehauen, weil mir die die Landschaft nicht gefallen hätte. Oder die Menschen. Sondern nur wegen des Systems. Und das System war ja nun offensichtlich erledigt oder vorbei. Also konnte ich auch wieder zurückziehen." Heute arbeitet er als Sozialarbeiter. Und fühlt sich wohl im kleinen, beschaulichen Weimar. "Ich mag die Stadt. Und ich mag auch mein Leben."
Geschichte "anfassen", so lange das noch geht
Das ist übrigens auch Agnès Arp immer wieder aufgefallen, wenn sie den Menschen zugehört hat. Es gibt unglaublich viele Grautöne in den Geschichten, es werden gute Erinnerungen geteilt und auch schlechte. Kaum jemand zeichnet sein Leben schwarz-weiß.
Das sieht sie eigentlich nur auf der gesellschaftlichen Ebene und es ärgert sie. "Von Journalisten und Politiker:innen wird seit 30 Jahren pauschalisiert, wenn sie über die DDR und die Vereinigung reden. Das ist, wie wenn man das Gehirn und die Meinungen der Deutschen seit dem Mauerfall formatieren würde mit einfachen Erklärungsangeboten und Stigmatisierungen."
Das ist aus ihrer Sicht übrigens auch ein Grund für viele Probleme unserer Zeit. "Also wann hören wir damit auf? Deutschland ist jetzt mehr als 30 Jahre lang vereinigt und hat sich mit Höhen und Tiefen entwickelt. Wie lange wollen wir noch über 'neue' und 'alte' Bundesländer reden?“
Arp wünscht sich stattdessen, dass in den Familien mehr über diese Zeit erzählt wird. Denn auch das ist eine Stärke der Oral History. Dass die Kinder mit ihrem Geschichtsbuch zu ihren Eltern oder Großeltern gehen können und ihnen Fragen stellen. Nach einer Geschichte, die noch nicht einmal 40 Jahre zurückliegt.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 09. November 2024 | 13:00 Uhr
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