Ein junger Mann mit Basballcap und Jackett, im Hintergrund Plattenbauten. 2 min
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Roman "Niemanns Kinder" Wenn Traumata zum Generationenkonflikt werden

25. April 2021, 17:08 Uhr

Was passiert, wenn Traumata nicht bewältigt, sondern an die nächste Generation vererbt werden? Das ist die zentrale Frage, die der Roman "Niemanns Kinder" von René Müller-Ferchland aufwirft. Der Erfurter Autor erzählt darin eine tragische Familiengeschichte, die an reale Gegebenheiten angelehnt ist: den Bosnien-Krieg und ein Ereignis, das bundesweit für Aufsehen sorgte, und sich 1999 in einem Plattenbaugebiet in Frankfurt an der Oder zugetragen hat.

Wer gerne und viel liest, kennt diese besonders intensiven Momente, wenn ein Buch ein lang gehegtes Geheimnis, dem der Leser regelrecht entgegengefiebert hat, endlich offenbart. Ein solches Moment gibt es auch im Roman "Niemanns Kinder" von René Müller-Ferchland. Allerdings lüftet der Autor dieses Geheimnis nicht einfach, sondern leitet den Leser an, es selbst zu enthüllen:

Euer Vater hat in seinem Notizbuch von Tagen in Neunundneunzig gesprochen. Ich habe das Jahr in eine Suchmaschine eingegeben und dazu noch Frankfurt an der Oder. Er drehte den beiden den Bildschirm zu...

aus "Niemanns Kinder" S. 110

Was in Frankfurt an der Oder 1999 passierte, werden wir hier nicht spoilern. Nur so viel: Es ist ein Ereignis, das Entsetzen auslöst und einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele wirft. Leser des Romans werden das Buch an dieser Stelle vermutlich für einige Zeit beiseitelegen und sich durch zahlreiche aufwühlende Zeitungsartikel klicken, ehe sie "Niemanns Kinder" mit umso größerem Interesse wieder zur Hand nehmen.

Der sparsame Schreiber

"Ich habe lange überlegt, wie ich das Geheimnis offenbare. Ich habe das ausprobiert und mehrmals geschrieben. Dass das jetzt so gut ankommt, freut mich natürlich riesig", sagt Müller-Ferchland. "Niemanns Kinder" ist der zweite Roman des 36-Jährigen. Zweieinhalb Jahre hat er recherchiert, geschrieben, verworfen und neu geschrieben. Vieles sei Experiment, sagt er über seine Art und Weise zu schreiben, die oft auf das Nötigste reduziert ist. Er braucht nicht viele Worte, um Figuren, Orte oder Szenen mit Leben zu füllen. Das Meiste überlässt er der Fantasie des Lesers. "Ich bin ein sparsamer Schreiber", sagt Müller-Ferchland selbst.

Und das meint er nicht nur im übertragenen Sinne. Müller-Ferchland hat sich diesen Roman sprichwörtlich vom Munde abgespart. Nach seinem Masterstudium an der Universität Erfurt, verwarf er Promotionspläne und beschloss, Schriftsteller zu werden. "Ich habe mir einen Brotjob gesucht, habe jahrelang an der Supermarktkasse gesessen und abends an meinem Roman gearbeitet", erzählt er.

Meisterhaftes Familiendrama

Lohn all dieser Mühe ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Roman. Allein die Figurenkonstellation ist meisterhaft konzipiert. Schon im zweiten Kapitel, dämmert dem Leser: Bei Familie Niemann liegt Einiges im Argen.

Mateo, der nur zehn Monate jüngere Bruder der rebellischen Protagonistin Marta, feiert Geburtstag. Mit dabei ist Martas Freund Finn, der eigentlich der Freund ihres schwulen, aber nicht geouteten Bruders ist. Am Geburtstagtisch sitzen auch die reservierte Mutter und ihre meist schweigende Schwester, die beide im Kindesalter als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen. Deshalb fällt ihnen vor Schreck die Kuchengabel aus der Hand, als Finn völlig unbedarft Großvater Jakosch nach Bosnien fragt. Doch von Bosnien weiß Jakosch nichts, weil er weder der leibliche Großvater noch Bosnier ist und eigentlich nur am Tisch sitzt, damit der leere Platz des Vaters nicht allzu sehr auffällt. Von diesem fehlt nämlich jede Spur.

Ein junger Mann im Jeanshemd sitzt an einem Schreibtisch. Darauf ein aufgeklappter Laptop.
Ein alter Schreibtisch, ein Laptop und lauter Notizen, hier schreibt René Müller-Ferchland inzwischen an seinem dritten Roman. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Vererbte Traumata

Auf knapp 180 Seiten entfaltetet René Müller-Ferchland diese Figurenkonstellation zu einer vielschichtigen und mitreißenden Geschichte, in der sich Marta auf die Suche nach ihrem Vater begibt und dabei Stück für Stück die tragische und deshalb lang verschwiegene Geschichte ihrer Familie aufdeckt.

"Ich habe mich für dieses Buch sehr viel mit transgenerationaler Traumatologie auseinandergesetzt, ein Phänomen, das man vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten konnte", sagt Müller-Ferchland. Er legt damit den Fokus auf ein sozialwissenschaftliches Problem, das sich mit der Weitergabe der Auswirkungen von Traumata an die nächste Generation beschäftigt. Im Roman verbieten Mutter und Tante den Kindern beispielsweise, Silvester zu feiern, was eine unmittelbare Folge ihrer Kriegserfahrung in Bosnien ist.

Ein junger Mann mit Basballcap und Jackett auf einen Parkdeck. Im Hintergrund zwei Plattenbauten.
"Ich frage mich, ob die folgende Generation nicht ein Recht hat zu erfahren, was ihre Eltern durchmachen mussten?" Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

"Es geht grundsätzlich um das Verschweigen von Traumata und darum, dass das ein großer Nachteil für die folgende Generation ist", sagt Müller-Ferchland, der mit seinem Roman unweigerlich auch Fragen unserer Zeit anstößt: zum Beispiel die Frage nach den Traumata der Geflüchteten, die rund um das Jahr 2015 zu uns kamen, und wie ihre in Deutschland geborenen Kinder damit umgehen werden?

Der Plattenbauroman

Darüber hinaus wirft "Niemanns Kinder" einen interessanten Blick auf das Schicksal der ostdeutschen Plattenbaugebiete. Lange Zeit habe der Roman den Arbeitstitel "Plattenbauroman" getragen, sagt der gebürtige Magdeburger, der selbst Teile seiner Kindheit und Jugend in einer Platte verlebte, die inzwischen abgerissen wurde. Eindringlich und präzise beschreibt er den Verfall der Wohngebiete, die einst als sozialistische Vorzeigestadtteile konzipiert wurden:

So viele Menschen haben hier gewohnt. Einige Blöcke sind noch ganz, andere wurden schon komplett abgerissen, dann sind da welche, die nur noch zum Teil stehen. Als hätte man die Häuser nur unbewohnbar machen wollen. Ich habe Mitleid mit den Betonplatten, die man dem Verfall überlassen hat. Die Aufgänge sind überwuchert von verdorrten Büschen und Gräsern. Es ist Winter geworden in dieser Welt, die keinem mehr ein Zuhause ist.

aus "Niemanns Kinder" S. 22

Das fällt immer wieder auf: Der Roman ist da am stärksten, wo er von den persönlichen Lebenserfahrungen des Autors profitiert: zum Beispiel bei der Dreiecksgeschichte zwischen Marta, ihrem Bruder Mateo und seinem Freund Finn. "Ich habe selbst zwei Geschwister, denen ich auch diesen Roman gewidmet habe und ich weiß aus eigner Erfahrung, wie schwer ein Outing in so jungen Jahren ist", erzählt Müller Ferchland, der zusammen mit seinem Ehemann in Erfurt wohnt.

Ein Plattenbau ragt in den Himmel.
In "Niemanns Kinder" sucht die 16-jährige Marta in einem Plattenbauviertel in Frankfurt an der Oder nach Hinweisen zu ihrem Vater und entdeckt ein schreckliches Geheimnis. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Junger Erfurter Verlag

Hier hat er mit dem Proof Verlag auch ein ambitioniertes junges Verlagshaus gefunden, das selbst noch relativ am Anfang steht. Seit zwei Jahren vertreibt es Bücher in geringer, wohl kalkulierter Stückzahl. Das ist auch der Grund, warum "Niemanns Kinder" einen Monat nach seinem Erscheinen noch nicht in allen Buchläden zu finden ist.

"Dazu kommt, dass ein junger unbekannter Romanautor es leider sehr schwer hat am Buchmarkt", sagt Verleger Maik Stock, der selbst keinen Moment zögerte, das Buch ins Verlagsrepertoire aufzunehmen. "Wir haben das Manuskript von René gelesen und waren sofort von dieser Art zu schreiben eingenommen. Und dazu kommt noch, dass er ein sehr feiner Mensch ist", sagt Stock. "Da macht die Zusammenarbeit natürlich umso mehr Spaß."

Niemanns Kinder René Müller-Ferchland
Proof Verlag Erfurt, 2021
176 Seiten
14,90 €

ISBN 978-3-949178-11-5

Quelle: MDR THÜRINGEN

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