Protestbewegung Wer hinter der "Letzten Generation" in Thüringen steckt

22. April 2023, 11:21 Uhr

Mit Störaktionen drängt die "Letzte Generation" Politik und Gesellschaft zu mehr Klimaschutz - seit einigen Monaten auch in Thüringen. Hass und Unverständnis, die ihnen dabei entgegenschlagen, scheinen an ihnen abzuperlen. Wer steckt hinter der Gruppe?

"Es ist schon echt intensiv, mit zwei Transportern auf die Brücke zu fahren und den Verkehr auszubremsen", sagt Lars Ritter. "Ich weiß, dass immer eine Aggression kommen kann - aber das war eine andere Qualität." Der Tritt ging viral: Ein Video auf Twitter zeigt, wie ein wutentbrannter Fahrer ein Mitglied der "Letzten Generation" an einer Elbbrücke von der Fahrbahn zerrt und ihm einen Tritt gegen den Oberkörper versetzt.

Immer wieder für Aktionen im Gefängnis

Ritter ist seit vergangenem Herbst bei der "Letzten Generation" und war von dem Vorfall "geschockt", wie er jetzt, eineinhalb Wochen später, am Telefon erzählt. Immer wieder hat er sich schon auf Straßen festgeklebt, um für den Klimaschutz zu demonstrieren - auch dort in Hamburg, als der befreundete Aktivist getreten wurde.

Und immer wieder saß er ein. Beim Telefoninterview ist er erst seit ein paar Tagen wieder aus dem Gefängnis raus: Vier Tage Unterbindungshaft, weil ein Richter nach der Hamburger Aktion verhindern wollte, dass sich Ritter direkt wieder bei einer Störaktion beteiligen könnte.

Ritter, der erst vor kurzem sein Abitur gemacht hat, ist deshalb interessant mit Blick auf Thüringen, weil er die hiesige "Widerstandsgruppe" mit aufgebaut hat. Zu Beginn dieses Jahres war er viel in Thüringen, um Vorträge zu halten und Mitglieder anzuwerben.

Mit dem "Mobi-Zug" durch Ostdeutschland

Eins dieser Mitglieder ist Birgit. Seit Januar ist die Ärztin dabei. Derzeit hat sie Urlaub genommen, um den "Mobi-Zug" zu organisieren: Mit einer Gruppe anderer Aktivisten reist sie durch Ostdeutschland und besucht Regionalgruppen, die sich ebenfalls im Aufbau befinden. "Wir verbringen Zeit miteinander, tauschen uns aus, mobilisieren. Mobilisieren heißt, wir versuchen, Menschen in Kontakt zu bringen mit der 'Letzten Generation'", erzählt Birgit.

Andere, weniger störende Protestformen werden sehr gut weg ignoriert.

Birgit "Letzte Generation"

Sie sei früher schon auf Demos gegangen, sagt sie, aktiv gewesen im "bürgerlichen Rahmen" eben. Ihr Motiv, sich dann aber bei der "Letzten Generation" für Klimaschutz zu engagieren, deckt sich mit dem anderer Mitglieder: "Wir haben eine Protestform, die nicht so konform ist mit den Erwartungen vieler Menschen - die aber notwendig ist, weil wir gesehen haben, dass andere, weniger störende Protestformen leider sehr gut weg ignoriert werden können und nicht dazu führen, dass wirklich mehr passiert in der Politik."

Nicht alle kleben sich fest

Auf eine Straße geklebt oder betoniert hat sich Birgit bisher noch nicht. Sie sei stattdessen als Unterstützerin bei Aktionen dabei gewesen, denn als Ärztin fürchte sie berufliche Konsequenzen, sollte sie sich festkleben und das bekannt werden. "Manche Menschen gehen ins Gefängnis", sagt sie. "Ich kann das nachvollziehen, wenn Menschen sich dafür entscheiden. Mir liegt aber auch mein Beruf sehr am Herzen und ich finde, dass es ein wertvoller und wichtiger Beruf ist. Deswegen bin ich da eben noch zurückhaltend."

In ihrem privaten Umfeld reagierten die Menschen unterschiedlich auf ihr neues Engagement. Einige Freunde fänden es von Grund auf richtig. "Meine Familie, würde ich sagen, nimmt es zur Kenntnis, dass ich das mache", sagt Birgit, ansonsten würde der Konflikt um das Thema eher umschifft: "Manchmal fragen sie dann so, 'du klebst dich doch jetzt nicht auch fest, oder?' Aber sie argumentieren jetzt nicht dagegen."

Das sind die Ziele der Letzten Generation

Neben ihren Störaktionen verfolgt die "Letzte Generation" auch konkrete Forderungen: Ein Tempolimit von 100 auf deutschen Straßen beispielsweise, oder die Einrichtung eines Gesellschaftsrates. Darin sollen repräsentativ ausgeloste Mitglieder Antworten auf die Frage liefern, die Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe beenden kann.

Beraten soll das Gremium ein zehnköpfiges Expertengremium, das beispielsweise auch die Interessen von Ländern des Globalen Südens vertreten soll. Die Entscheidungen des Gesellschaftsrates sollen dann als Vorlage für Gesetzentwürfe dienen, die die Bundesregierung einbringen und vorantreiben soll.

Die Aktionen der Gruppe polarisieren: Bewunderung für die Unerschrockenheit und den Einsatz für den Klimaschutz auf der einen - Unverständnis für die Wahl der Protestform oder gar Hass auf der anderen Seite. Fragt man Passantinnen und Passanten zur Feierabendzeit in der Erfurter Innenstadt, sind die Töne zurückhaltend: Von "Halte ich nicht viel von" bis "Ich stehe hinter der Sache, aber es schafft schlechte Aufmerksamkeit" fallen die Meinungen zur Protestform der Gruppe eher verhalten aus.

Vom Unterschriften-Sammeln zur "Letzten Generation"

Das weiß auch Achim. Der Gartenbau-Student steht vor einem Gebäude der Uni Jena. Gleich findet hier, in den Räumen der Universität, das Plenum der Thüringer Regionalgruppe statt. Achim war zuletzt vor allem bei der Gruppe des Erfurter Klimaentscheids beteiligt und hatte Unterschriften für raschere klimapolitische Maßnahmen der Stadt gesammelt. Jetzt widmet er große Teile seiner Freizeit der "Letzten Generation". Der Thüringer Gruppe, so sagt er, gehörten momentan ein Kernteam von etwa zwölf Leuten an.

Wir betrachten die Aktionen für die Allgemeinheit als notwendig.

Achim "Letzte Generation"

Straffe Hierarchien innerhalb der Aktivisten-Gruppe

Eigentlich wollte die Thüringer Gruppe Ende März noch einmal eine Straßenblockade durchführen. Doch die in der relativ straffen Hierarchie oben angesiedelte Strategie-Gruppe in Berlin blockierte das Vorhaben. Momentan, so sagt es Achim, würden alle Kräfte gebündelt und mobilisiert, um ab 19. April eine Protest- und Störwoche in Berlin durchführen zu können, zu der auch alle regionalen Gruppen aufgerufen seien.

Dass die "Letzte Generation" dabei tatsächlich - anders als andere aktivistische Gruppen - recht straff und hierarchisch organisiert ist, zeigt auch die Mitte März veröffentlichte interne Informationsdatenbank. Wie die Tageszeitung (Taz) schreibt, gibt es demnach bei der "Letzten Generation" nicht nur Arbeitsgruppen für Buchhaltung oder Grafik. Sondern eben auch für strategische Planungen, die regionale Pläne gegebenenfalls zurückpfeifen können. Auch Lars Ritter, der in Hamburg im Gefängnis saß, gehört mittlerweile dem Strategieteam für Ostdeutschland an.

Interviews nur von geschulten Mitgliedern

Die interne Datenbank verrät zudem, dass Aktivsten auch bezahlt werden, wenn sie Bildungsarbeit in Form von Workshops oder die Pflege zu Pressekontakten übernehmen - auch hierfür ist der 19-jährige Lars Ritter ein Beispiel. Interessant ist zudem, dass die Gruppe zwar massiv auf Öffentlichkeitsarbeit setzt, die Presse aber durchaus kritisch gesehen wird. Nicht nur dürfen ausschließlich Aktivisten mit Journalisten sprechen, die ein Pressetraining absolviert haben - Pressevertreter werden intern auch als "Teil des toxischen Mediensystems" beschrieben, die "primär ihren Profit" wollten.

Wissenschaftler beobachtet Radikalisierung im Klimaaktivismus

Auch die Wissenschaft beobachtet in diesen Tagen genau, wie die "Letzte Generation" agiert. Der Protestforscher Dieter Rucht hat in der Wochenzeitung "Zeit" anschaulich beschrieben, inwiefern es sich bei der Gruppe um eine Weiterentwicklung früherer Klimabewegungen handelt. Während "Fridays For Future" eher für bunte und friedliche Proteste bekannt wurde, schaltete "Extinction Rebellion" bereits einen Gang höher - es ging aber mehr um Spektakel, wie Rucht sagt. "Das sind medienwirksame Aktionen, die aber nicht sonderlich viel Druck erzeugen. Wir erleben inzwischen eine dritte Stufe: Aktionen zivilen Ungehorsams."

Ohne den Druck der Straße und das Drohpotenzial würden die Moderaten vielleicht gar keine Zugeständnisse bekommen.

Dieter Rucht Protestforscher

Ihre Störaktionen seien durchaus "kontraproduktiv", da sie die Falschen träfen. Dennoch sieht der Wissenschaftler in der Arbeit der "Letzten Generation" eine Relevanz: "Wenn es radikale Gruppen gibt, kann das die Position der Moderaten am Verhandlungstisch stärken. Ohne den Druck der Straße und das Drohpotenzial würden die Moderaten vielleicht gar keine Zugeständnisse bekommen."

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Radikale Begriffe - wenig Zweifel

Wer mit Mitgliedern der "Letzten Generation" spricht, stolpert immer wieder über Begriffe wie "Gruppenstärke", "Widerstandsgruppe" - Lars Ritter aus dem Strategieteam Ostdeutschland unterschreibt seine E-Mails mit "rebellischen Grüßen". Wie nachhaltig die Gruppe mit ihrem radikaleren Stil Einfluss auf die deutsche Politik nehmen kann, bleibt offen.

Lars Ritter gibt zu: "Ich zweifle da schon immer mal, wenn so eine komplette Stadt sagt, du machst das falsch, oder du wirst angeschrien, oder eine schwangere Frau kommt bei einer Blockade und braucht länger, bis wir sie durchlassen können. Dass bringt mich schon an die Grenzen." Gleichzeitig, sagt der 19-Jährige überzeugt, hätten sie mit großen, einfachen Demonstrationen schon alles versucht. "Wir brauchen die materielle Störung."

MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 04. April 2023 | 12:00 Uhr

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