Der Landesvorsitzende der CDU Thüringen, Mario Voigt, spricht in ein Mikrofon.
Mario Voigt (CDU) will neuer Ministerpräsident von Thüringen werden. Geht das mit BSW und SPD? Bildrechte: IMAGO / Jacob Schröter

Schwierige Mehrheitsfindung Bekommt Thüringen eine linkstolerierte Brombeer-Koalition?

05. September 2024, 08:28 Uhr

2019 war schwierig, 2024 wird keinesfalls leichter. Nach der Landtagswahl dürfte die Regierungsbildung in Thüringen dauern. Während sich die AfD mit ihrem Drittel aller Stimmen selbst isoliert, ringen die übrigen Parteien um Lösungen. Eine Analyse der schwiergen Mehrheitsfindung.

Das Wählervotum der Landtagswahl 2019 stellte die Thüringer Parteienlandschaft schon damals vor schier unlösbare Probleme. Eine Regierungskrise und viereinhalb Jahre Minderheitsregierung später waren sich alle Politiker einig: Eine Minderheitsregierung habe gereicht. Bitte nicht nochmal!

Im Herbst 2024 stehen die Thüringer Parteien vor womöglich noch unlösbareren Problemen und einer neuen, in dieser Konstellation nie erprobten Regierung ohne Mehrheit. Die Wählerinnen und Wähler haben entschieden und die rechtsextreme AfD stärker gemacht als je zuvor. Sie hat 32,8 Prozent aller Stimmen erhalten, ist stärkste Kraft und wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit trotzdem nicht regieren.

Stattdessen versuchen CDU (23,6 Prozent), BSW (15,8), Linke (13,1) und SPD (6,1) ihre Möglichkeiten auszuloten, wie es gemeinsam weitergehen könnte. Aufgrund der klaren Ansage des BSW, nicht mit der AfD, und des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU, nicht mit AfD und Linken zusammenzuarbeiten, bleibt als wahrscheinlichste Möglichkeit die Brombeer-Koalition - wie Politologen ein Bündnis aus CDU (schwarz), BSW (lila) und SPD (rot) nennen.

Doch diese Konstellation hat ein entscheidendes Defizit: Ihr fehlt eine Stimme zur absoluten Mehrheit im Parlament. Mit dem neugegründeten BSW sind außerdem viele Unwägbarkeiten verbunden.

Die AfD glaubt an ein Diktat des Wahlgewinners

Schauen wir aber zunächst auf die AfD, die in allen Interviews verbreitet, dass es ihr als Wahlgewinner obliegt, eine Regierung zu stellen. Die etablierten Parteien würden die Mehrheit der Thüringer außen vorlassen und den Wählerwillen missachten. Das ist schlichtweg falsch und eine Form des politischen Framings, um die Deutungshoheit zu gewinnen.

Die Parteien-Demokratie kennt kein Diktat des Wahlgewinners. Es gibt kein Recht, als stärkste Partei die Regierung anzuführen. Die Demokratie kennt nur Mehrheitsverhältnisse. Diese müssen sich in den allermeisten Fällen über die Kooperation der Parteien herstellen. Hierzu scheint die AfD jedoch nicht bereit.

Zwar hat die AfD angekündigt, Gespräche mit CDU und BSW führen zu wollen – das hatten die beiden Parteien aber bereits im Vorfeld abgelehnt. Grund dafür ist die seit Jahren stattfindende Radikalisierung der AfD, die es keiner anderen Partei ermöglicht, auf sie zuzugehen.

AfD in Thüringen in der Selbstisolation

Stattdessen übt sich die Höcke-Partei in politischer Selbstisolation. Schon 2019 hätte sie in Thüringen Partner sein können, doch schon damals war sie allen anderen Parteien zu radikal. Selbst die CDU, die viele inhaltliche Schnittmengen zur AfD hat, konnte und wollte nicht mit dieser Partei koalieren. Auf diese Zurückweisung, die in den 90er-Jahren auch die PDS (die spätere Linke) erlebte, reagierte die AfD mit noch stärkerer Radikalisierung, sodass sie heute als Solitär im Parlament neben allen anderen Parteien steht.

Statt wie die Linke um das Vertrauen der politischen Mitte zu werben, um Koalitionsoptionen aufzubauen, ist die AfD in ihrer Rhetorik und in ihrem politischen sowie gesellschaftlichen Auftreten immer radikaler geworden, was 2021 dazu führte, dass der Thüringer Verfassungsschutz sie als erwiesen rechtsextremistisch einstufte. Mit dieser Einschätzung steht der Verfassungsschutz nicht allein da: Zahlreiche Medienberichte und wissenschaftliche Studien zur AfD untermauern diese Einschätzung. Auch das Thüringer Oberverwaltungsgericht erkannte die verfassungswidrige Ausrichtung der Thüringer AfD an, als es über den Waffenbesitz eines einzelnen Parteimitglieds urteilte.

Björn Höcke hat seine Partei mit Provokationen bewusst zum politischen Außenseiter gemacht. Das Zitieren von NS-Parolen, wofür er schon zweimal verurteilt wurde, ist dafür nur ein Beispiel aus jüngster Zeit. Er macht seine Partei damit aus Sicht der anderen Parteien zu einem unmöglichen Koalitionspartner und schürt zugleich die Emotionen seiner Wählerschaft, gegen die "Kartellparteien", die den Wählerwillen ignorierten, wenn sie mit der AfD nicht zusammenarbeiten wollten.

Höcke Hopfenberg
Björn Höcke am Wahlabend vor dem Erfurter Lokal, in dem die Thüringer AfD unter Ausschluss der Öffentlichkeit feierte. Bildrechte: Elisabeth Czech

Dass Realitätsverzerrung und radikale Selbstisolation inzwischen zur Methode der gesamten AfD geworden sind, zeigte sich auch am Montagmorgen, als die AfD-Bundesvorsitzende Alice Weidel im ZDF-Interview gefragt wurde, ob es nicht an der AfD selbst läge, dass sie keine Koalitionen schließen könne. Fünf Mal hakte der Journalist Andreas Wunn nach, stellte die gleiche Frage in immer neuen Worten und bekam am Ende doch keine Antwort. Weidel beschimpfte ihn stattdessen als politischen Aktivisten und nannte das Agieren der anderen Parteien "undemokratisch".

Dieses Verhalten legt den Schluss nahe: Die AfD Thüringen hat kein ehrliches Interesse an einer Regierungsbeteiligung. Sie hat sich als stärkste Partei selbst aus dem demokratischen Prozess der Mehrheitsfindung verabschiedet.

Politisches Neuland mit der Brombeer-Koalition

In der übrigen Thüringer Parteienlandschaft herrscht hingegen der Grundkonsens, dass, wenn es mit dem Wahlsieger nicht gehe, die Regierungsbildung dem Zweitplatzierten zufalle. Die CDU hat mit 23,6 Prozent zwar das zweitschlechteste Ergebnis der Landesgeschichte erzielt, wird aber trotzdem versuchen, mit Parteivorsitzenden Mario Voigt einen Ministerpräsidenten zu stellen.

Schon im Wahlkampf war diese Brombeer-Koalition diskutiert worden, als sich abzeichnete, dass Grüne und FDP nicht in den Landtag einziehen würden. Denn auch das ist bei dieser Wahl in Thüringen passiert: Die Parteienlandschaft hat eine grundlegende Veränderung erfahren. Seit 2009 wirkten die Grünen ununterbrochen im Thüringer Landtag mit und beteiligten sich zweimal an Regierungsbildungen. Die FDP war seit 2009 insgesamt zehn Jahre im Landtag vertreten und stellte eine streitbare, aber demokratische Oppositionspartei. Diese Parteien fehlen nun.

Mit dem im Januar 2024 gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht ist stattdessen eine völlig neue Partei in den Landtag eingezogen, die aus dem Stand 15,8 Prozent der Stimmen holte. Das ist einmalig in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik. Sollten CDU und SPD eine Koalition mit dem BSW wagen, würde in Thüringen einmal mehr politisches Neuland betreten - vor allem, wenn es zu einer Tolerierung durch die Linkspartei käme.

Zwar bracht die Linkspartei am Mittwoch auch eine lila-rot-rote Minderheitsregierung ins Spiel, aber diese gilt als extrem unwahrscheinlich. Zugleich ist es längst nicht ausgemacht, dass CDU, BSW und SPD sich zusammenraufen. Wie man hört, wächst in der SPD die Sehnsucht nach einer Regierungsauszeit in der Opposition. Auch in der CDU regt sich Widerstand gegen das BSW.

Inhaltliche und personelle Differenzen zum BSW

Eine Regierungsbildung mit dem BSW dürfte schwierig werden. Denn es gibt teils große inhaltliche Differenzen bei bundespolitischen Themen zwischen BSW auf der einen und SPD und CDU auf der anderen Seite. Das BSW will die Themen Waffenlieferungen in die Ukraine und die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland in der Landespolitik mitverhandeln. Sie fordert vom künftigen Thüringer Ministerpräsidenten ein Bekenntnis dagegen. SPD und CDU befürworten beides grundsätzlich.  

Überhaupt stellt die BSW-Bundesvorsitzende Sahra Wagenknecht ungewöhnliche Bedingungen. Die "Helikopterchefin", wie der "Spiegel" treffend titelte, will in die Gespräche in Thüringen einbezogen werden. Mario Voigt erteilte dieser Einmischung im Interview mit der "Welt" vor der Wahl eine klare Absage: "Solange Frau Wagenknecht hier die Ansagen macht […] wird es keine Gesprächsgrundlage geben." In der Landespressekonferenz (LPK) am Mittwoch nach der Wahl klang das schon anders: "Ich habe da keine Ausschließeritis", sagte Voigt.

Im Thüringer Parteivorstand des BSW wurde nach der Wahl beschlossen, dass Katja Wolf und Steffen Schütz die Koalitionsverhandlungen führen sollen. Zugleich erklärte Wolf in der LPK am Mittwoch, dass es mindestens ein Gespräch geben solle, an dem sich Wagenknecht beteilige.

Katja Wolf (M), Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Thüringen und Steffen Schütz, Landesvorsitzender und Spitzenkandidat des BSW in Thüringen, kommen gemeinsam mit der Parteivorsitzenden Sahra Wagenknecht nach der Prognose um 18 Uhr zur BSW-Wahlparty.
Parteichefin Sahra Wagenknecht (Mitte) wird voraussichtlich in Thüringen an einem Gespräch im Vorfeld der Sondierungen teilnehmen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Eine andere, ganz grundsätzliche Frage, die sich CDU und SPD stellen dürften, ist: Was ist das BSW für ein Koalitionspartner? Was ist eine Partei im Stande zu leisten, die auf Landesebene nicht mal 100 Mitglieder hat, aber 15 Landtagsabgeordnete stellt? Die meisten BSW-Abgeordneten haben keine oder wenig politische Erfahrung. Manche sind komplette Quereinsteiger. Sie werden Zeit benötigen, um sich in den parlamentarischen Betrieb einzuarbeiten. In einer Regierung gibt es aber keine Schonzeit.

Der "Thüringer Weg" in die Patt-Regierung?

Die Unerfahrenheit des BSW kann für SPD und CDU riskant sein. Besonders schwer dürfte die Koalition mit dem BSW der CDU fallen, die nie mit der Linken zusammenarbeiten wollte, jetzt aber mit der Wagenknecht-Partei koalieren müsste. Denn Sahra Wagenknecht prägte jahrzehntelang die PDS und Linkspartei und galt als ihre Vorzeige-Kommunistin. Der Schatten, über den einige Christdemokraten hier springen müssen, ist gewaltig.

Am Wahlabend auf die schwierigen Koalitionsmöglichkeiten angesprochen, sagte Mario Voigt in der ARD, dass der "Thüringer Weg" Unterstützung aus Berlin habe. Doch wie weit diese Unterstützung reicht, wird sich erst noch zeigen, denn die Brombeer-Koalition hat nach dem vorläufigen Endergebnis keine eigene Mehrheit. Mit 44 von 88 Sitzen fehlt ihr genau eine Stimme im Parlament, um Gesetze beschließen zu können.

Voigt spricht aufgrund der Stimmgleichheit von einem "Patt". Doch genau wie bei einer Minderheitsregierung wäre ein Ministerpräsident Voigt auf Stimmen der Linkspartei oder der AfD angewiesen. Eine Regierung mit wechselnden Mehrheiten hatte Georg Maier auf dem letzten SPD-Parteitag aber ausgeschlossen. Damals erteilte er einem Gedankenspiel von CDU und FDP eine entsprechende Absage.

In der LPK am Mittwoch erklärte Maier, dass das Patt keine Minderheitsregierung sei und es dadurch etwas leichter werde: "Diese Regierung hätte zwar keine Mehrheit, aber gegen sie kann auch nicht agiert werden." Auch BSW-Spitzenkandidatin Wolf begriff das Patt als Chance: "Wir haben immer gesagt, es braucht eine neue politische Kultur in Thüringen." Das Patt setze ein neues Miteinander voraus.

Tolerierung der Linkspartei wahrscheinlich

Da die AfD kein Interesse an einer kompromissbasierten Regierung hat, und auch die CDU und das BSW eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen haben, bleibt nur die Linkspartei als Mehrheitsbeschafferin.

Kurz nach der Wahl verbreitete sich das Gerücht, dass Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow aus seiner Partei austreten und ins BSW eintreten könnte, um eine Mehrheitsregierung zu ermöglichen. Das dementierte Ramelow vehement und sprach im Spiegel von einer "Schnapsidee". Zugleich sagte er, dass er mit der Linksfraktion bereit wäre, einer Regierung zur Mehrheit zu verhelfen. Christian Schaft, der Landesvorsitzende der Linkspartei, bestätigte das in der Landespressekonferenz. Wie genau die Hilfe aussehen könnte, blieb zunächst offen.

Bodo Ramelow
Bodo Ramelow (Linke) dementierte kurz nach der Wahl Gerüchte, dass er dem BSW beitreten wolle. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jacob Schröter

Die Tolerierung einer Brombeer-Regierung durch die Linkspartei scheint also möglich. Allerdings gäbe es auch diese nicht zum Nulltarif. Die Linke nannte öffentlich bisher keine konkreten Bedingungen. Es ist aber davon auszugehen, dass sie ein partielles Mitsprachrecht bei Haushaltsverhandlungen und manchen Gesetzen als Gegenleistung fordert, so wie es die Regierung Ramelow der CDU in den letzten fünf Jahren einräumte.

Die Ironie der Geschichte

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Voigt und Ramelow nun wohl die Rollen tauschen werden. Fünf Jahre lang hat Voigt versucht, Ramelows Minderheitsregierung vor sich herzutreiben und immer wieder Einfluss auf Gesetze genommen. Seine CDU hat Korrekturen an den Haushalten der rot-rot-grünen Regierung vorgenommen und hat im Landtag mit Stimmen der FDP und AfD Gesetze gegen die Regierung beschlossen. Das war bei der Senkung der Grunderwerbssteuer oder auch bei der Änderung des Thüringer Waldgesetzes so.

Jetzt könnte Voigt mit seiner möglichen Patt-Regierung auf Ramelow und die Linke angewiesen sein. Ramelow, dem seine Mitarbeiter ein Gedächtnis wie ein Elefant attestieren, dürfte nicht so einfach darüber hinweggehen, wie viel Geringschätzung Voigt ihn im Wahlkampf entgegenbrachte. Das TV-Duell zwischen Voigt und Höcke, das den amtierenden Thüringer Ministerpräsidenten außen vorließ, empfand Ramelow als Affront.

Übrigens haben auch hier die Thüringer Wähler ungewollt Humor bewiesen: Denn eine Koalition aus CDU, Linkspartei und BSW hätte die Mehrheit, die sich Voigt sich erhofft. Ungeachtet seiner persönlichen Animositäten mit Ramelow ist diese aber keine Option für die CDU. Im Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU heißt es: "Die CDU Deutschland lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab." Der "Thüringer Weg" hat Leitplanken. Die reichen bis zum BSW, hören aber bei der Linkspartei auf.

Es ist schwierig in Thüringen. Mal wieder.

Mehr zur Landtagswahl in Thüringen und den Folgen

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 04. September 2024 | 19:00 Uhr

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