Außerklinische Intensivpflege Der Alltag eines pflegenden Angehörigen: "Immer irgendwie auf Standby"

23. Juli 2023, 22:34 Uhr

Menschen, die ihre Angehörigen oder auch Freunde pflegen, gelten als Deutschlands größter Pflegedienst. Sogenannte pflegende Angehörige leisten nach Angaben des Vereins "wir pflegen" über 80 Prozent der Pflege in Deutschland. In Jena pflegt Dirk Strecker zusammen mit seiner Frau die gemeinsame Tochter Linn. Eine Gehirnfehlbildung hat bei ihr unmittelbar nach der Geburt einen Lungenschaden verursacht. Seitdem muss das heute 19-jährige Mädchen künstlich beatmet werden.

  • Seit 17 Jahren pflegt Dirk Strecker seine Tochter. Dafür hat er sein Studium abgebrochen.
  • Die Pflege beginnt um sechs Uhr und endet erst, wenn der Nachtdienst übernimmt.
  • Die größte Herausforderung? Das ist der Pflegenotstand
  • Neue Regeln für außerklinische Intensivpflege bereiten Dirk Strecker Sorgen.
  • Was Dirk Strecker Kraft gibt

Das Treffen mit Dirk Strecker verläuft anders als geplant. Eigentlich haben wir uns an diesem Julinachmittag extra eine Stunde früher verabredet, damit wir in Ruhe reden können, bevor Linn aus der Behinderten-Werkstatt nach Hause gebracht wird. Als ich die Erdgeschosswohnung der Familie Strecker dann betrete, hat er aber bereits alle Hände voll zu tun. Er steht in Linns Zimmer und hantiert mit einer lila Spritze.

"In der Intensivpflege kann jeder Tag anders sein"

Linns Zimmer ist ein schmaler Raum. Es ist warm heute, die Rollos sind deshalb unten und es ist angenehm dunkel. An den Wänden hängen Fotos, eins zeigt Linn auf einem Rücksitz eines Cabrios mit Sonnenbrille.

In der Ecke des Zimmers stehen kompliziert aussehende Geräte, die blinken, piepsen und schnaufen. Daneben ist ein großes Bett. Hier liegt Linn mit geschlossen Augen, ab und zu zuckt ihr Arm. "Bei Menschen in der Intensivpflege kann halt jeder Tag anders sein", erklärt Dirk Strecker die Situation.

Was heißt außerklinische Intensivpflege? Unter außerklinischer Intensivpflege versteht man die medizinische und pflegerische Versorgung von schwerstkranken Kindern und Erwachsenen außerhalb eines Krankenhauses. Betroffene Patientinnen und Patienten brauchen eine umfangreiche medizinische und pflegerische Betreuung, weil bei ihnen jederzeit lebensbedrohliche Komplikationen auftreten können. Sie werden beispielsweise beatmet oder künstlich ernährt. (Quelle: AOK.

Linn geht es heute nicht gut, deshalb wurde sie auch schon früher nach Hause gebracht. Ihr Vater vermutet, das hänge mit der Wärme zusammen. Nach Jahren der Pflege weiß Dirk Strecker genau, wann es seiner Tochter gut gehe und wann nicht: "Sie ist dann angespannt, ihre Augen sind zu und ihre Herzfrequenz ist dann übermäßig hoch für ihr Alter."

Strecker führt Linn mit der lila Spritze ein Schmerzmittel über ihre Magensonde zu. Der Verschluss liegt in der Nähe des Bauchnabels. Die Spritze soll sie beruhigen und die Anspannung lösen: "Schauen wir mal, ob das anschlägt", meint Strecker. Er steht neben ihr am Bett und nimmt liebevoll ihre Hand: "Das wirkt nochmal beruhigend auf sie."

In den nächsten Minuten wird das anfängliche Piepsen allmählich seltener, bis es irgendwann nicht mehr zu hören ist. Es kam von einem Gerät, das Linns Sauerstoffsättigung und die Herzfrequenz misst. Es piept, wenn zum Beispiel die Herzfrequenz zu hoch ist. Dass das Gerät nicht mehr zu hören ist, ist ein gutes Zeichen: Linn hat sich beruhigt. Sie schläft jetzt. Die Spritze wirkt.

Bei Menschen in der Intensivpflege kann halt jeder Tag anders sein.

Dirk Strecker

Linns Leiden: Schluckstörung und Epilepsie

Strecker wirkt trotz der Hektik souverän. Er kann mir mühelos jeden einzelnen Pflegeschritt erklären, den er macht. Dennoch merke ich ihm an, dass er froh ist, dass Linn nun schläft: "Das Schwerste ist, wenn man nichts bewirkt, wenn man die Unruhe und die Schmerzen nicht auflösen kann." An solchen schlechten Tagen könne es auch mal passieren, dass er stundenlang einfach nur neben Linns Bett steht und darauf wartet, dass es ihr besser geht.

Wir können uns jetzt in Ruhe unterhalten. Bleiben dafür aber in Linns Zimmer, damit Strecker sie weiter beobachten kann. Wir sind allein in der Wohnung. Seine Frau ist Kinderärztin und arbeitet gerade, die jüngere Tochter ist unterwegs.

Dirk Strecker hat eine Ausbildung zum Krankenpfleger abgeschlossen. Als er danach ein Studium begonnen hatte, kam Linn auf die Welt. Sie wurde mit einer seltenen Krankheit geboren. Strecker kenne im deutschsprachigen Raum nur ungefähr 100 Betroffene mit der gleichen Erkrankung.

Aufgrund der angeborenen Gehirnfehlbildung leidet Linn unter einer Schluckstörung und Epilepsie. Die Schluckstörung hat unmittelbar nach der Geburt zu einem Lungenschaden geführt, weshalb sie künstlich beatmet werden muss. Sehen oder sprechen kann Linn nicht, aber hören. Wenn man sie anspricht oder ihr etwas vorliest, spürt sie das.

Um Linn pflegen zu können, hat Dirk Strecker sein Studium abgebrochen. Gemeinsam mit seiner Frau hatte er damals entschieden, dass sie ihr Medizinstudium abschließt, um danach als Ärztin zu arbeiten, und er sich auf die Pflege konzentriert.

Täglich 24 Stunden Pflege - alles selbst organisiert

Wegen der Schwere der Erkrankung muss Linn täglich 24 Stunden betreut werden. Deshalb kümmert sich Dirk Strecker auch nicht allein um Linn. Seine Frau hilft nach der Arbeit mit und zusätzlich beschäftigt die Familie ein Team aus Pflegefachkräften, das auf Intensivpflege spezialisiert ist.

Dass er und seine Frau Linn pflegen, hat nichts mit ihren Berufen zu tun: "Es gibt viele Eltern, die aus nichtmedizinischen Berufen kommen und lernen das sehr gut." Man müsse dafür kein Arzt sein. Wichtig sei vor allem, dass man die technischen Dinge erlerne, wie zum Beispiel Essen über die Magensonde geben oder die Werte auf den Messgeräten ablesen.

Wie viele Fälle außerklinischer Intensivpflege gibt es in Deutschland und Thüringen? Laut Angaben des Bundesgesundheitsministeriums gab es 2021 in Deutschland 22.199 Fälle außerklinischer Intensivpflege. (19.952 Fälle hiervon wurden zu Hause betreut.) In Thüringen sind der Techniker Krankenkasse, der Barmer und der AOK Plus insgesamt 450 Fälle außerklinischer Intensivpflege bekannt.

Dirk Streckers Tag beginnt in der Regel um sechs Uhr morgens. Dann macht er Linn fertig für den Tag, wäscht und zieht sie an. Er wechselt sich dabei mit seiner Frau ab. Im Laufe des Vormittags kommen dann die Pflegefachkräfte. Linn bekommt Physiotherapie und wird dann in eine Behinderten-Werkstatt gebracht. Dort bleibt sie bis zum frühen Nachmittag. In der Zeit kann Strecker andere Dinge erledigen.

Er kümmert sich dann um den Haushalt und organisiert Linns Pflege, schreibt zum Beispiel die Dienstpläne für das Pflegepersonal. Von der Krankenkasse bekommt die Familie Geld, um das Personal einstellen und Pflegematerial, zum Beispiel Windeln, kaufen zu können. Linns Pflege funktioniert also wie ein kleines Unternehmen. Dirk Strecker betreibt hierfür eine Internetseite mit einem Blog und Stellenausschreibungen.

Die größte Herausforderung? Der Pflegenotstand

Aktuell beschäftigen Streckers zehn Pflegekräfte, darunter auch ein paar Studenten. Sie bräuchten mehr, im Moment fehlt ihnen eine Vollzeitkraft, die Linn hauptberuflich betreuen würde. Ihre Arbeit übernimmt Dirk Strecker.

Er betreut Linn fast jeden Tag in der Woche, sobald sie zurück aus der Werkstatt ist. Sie essen dann und abends macht er sie bettfertig. Gegen zehn Uhr kommt der Nachtdienst, der die Betreuung bis sechs Uhr morgens übernimmt, in der Zeit wach bleibt und nach Linn schaut. Auch diesen Dienst übernimmt manchmal Dirk Strecker. Statt in der Nacht schläft er dann am Nachmittag.

Durch den Pflegenotstand kann ich nicht arbeiten.

Dirk Strecker

Er schätzt, dass Linns Pflege aktuell etwas mehr als 80 Stunden pro Woche beansprucht, festlegen möchte er sich aber nicht: "Ich gucke ja auch nicht auf die Stechuhr, da würde man ja auch verrückt werden." Vor Jahren konnte Strecker parallel noch als Krankenpfleger arbeiten, zum Beispiel in einem Kinderhospiz. Das geht jetzt nicht mehr: "Durch den Pflegenotstand kann ich nicht arbeiten."

Strecker betont aber, dass er und seine Frau auch gar nicht den Anspruch hätten, alles mit Pflegefachkräften abzudecken. Sie möchten gemeinsam als Familie Zeit mit Linn verbringen und sie als Mensch erleben. In Momenten, in denen sie nicht schläft, lesen sie ihr beispielsweise Geschichten vor.

Dennoch belastet ihn der Fachkräftemangel in der Pflegebranche sehr: "Die größte Herausforderung ist, das über Jahre weiterzumachen und zu sagen, dass der Pflegenotstand noch schärfer wird, dass das Personal noch weniger wird und man nicht sieht, dass es irgendwie besser wird."

Sorge vor neuen Regelungen ab Oktober

Die Politik geht die Probleme pflegender Angehöriger für Strecker falsch an. Entlastungsprogramme wie die Verhinderungspflege seien einerseits zu schwach, anderseits fehle auch hier entsprechend ausgebildetes Personal: "Ich kann nicht einfach jemanden mit einer schweren oder seltenen Erkrankung und besonderen Bedürfnissen einfach in die Verhinderungspflege geben und dann mach' ich mal Urlaub. Die Pflege ist so speziell, da ist man schnell überfordert."

Die Verhinderungspflege ist ein Angebot der Pflegeversicherung, das Angehörige entlasten soll. Sie können die Pflege für maximal sechs Wochen im Jahr an einen Pflegedienst abgeben.

Sorgen bereite Strecker außerdem, dass ab Oktober bundesweit neue Regeln für die außerklinische Intensivpflege gelten sollen. Geplant ist eine neue Richtlinie, die die Rechtslage rund um die außerklinische Intensivpflege verändert. Zum Beispiel brauchen Hausärzte dann eine Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung, um die intensivpflegerischen Maßnahmen verordnen zu dürfen.

Strecker befürchtet, dass Thüringen dafür nicht vorbereitet ist und es dann nicht mehr genügend Ärzte gibt: "Es fehlen die Strukturen, um das Gesetz umzusetzen, wie der Gesetzgeber sich das vorgestellt hat."

Zwar hat der gemeinsame Bundesausschuss am 20. Juli bekannt gegeben, die Richtlinie noch mal geändert zu haben mit dem Ziel, Engpässe in der Versorgung zu vermeiden. Laut des Bundesauschusses wurde zum Beispiel der Kreis der Mediziner erweitert, die ab Oktober Verordnungen erteilen dürfen.

Die Patientenvertretung im gemeinsamen Bundesausschuss warnt allerdings weiter vor Problemen ab Herbst: "Nach den der Patientenvertretung vorliegenden Rückmeldungen sind diese Regelungen jedoch nicht ausreichend, um die Versorgungssicherheit der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten."

Was gibt Kraft?

Bei den Streckers ist inzwischen der frühe Abend angebrochen. In Linns Zimmer ist es nach wie vor ruhig. Nur das Beatmungsgerät schnauft weiter. Strecker steht neben dem Bett, eine Hand auf der Bettkante. Er wird Linn gleich bettfertig machen. Um zehn Uhr kommt dann der Nachtdienst.

Ich könnte mich mit ihm noch stundenlang über Pflege und die Situation in Deutschland unterhalten. Neben seinen Pflegeaufgaben engagiert er sich auch in der Selbsthilfegruppe Neurokind, deren Sprecher er ist. Hier will er anderen Familien helfen, die ein ähnliches Schicksal haben. Wenn er mal nichts mit Pflege zu tun hat, fotografiert er gerne. Dabei kann er abschalten und den Kopf frei bekommen.

Gerade sind seine zweite Tochter und seine Frau nach Hause gekommen. In Thüringen sind jetzt Sommerferien. Auch Familie Strecker wird in den nächsten Wochen wegfahren. Ziel ist ein Kinderhospiz in Nordrhein-Westfalen. Für eine paar Tage betreut dann das Pflegepersonal vor Ort Linn, so dass die Familie sich erholen und Kraft tanken kann für den Pflege-Alltag in Jena.

MDR (nis)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 23. Juli 2023 | 18:45 Uhr

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