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In Liegau-Augustustbad werden fünf schwerstgeschädigte Menschen in einer Intensivpflege-Wohngruppe betreut. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Reportage Feine Antennen für Bob in der Intensivpflege-WG

14. Mai 2023, 11:30 Uhr

Extremer Sauerstoffmangel bei der Geburt hat die Gehirnfunktionen bei Bob extrem eingeschränkt. Der heute 19-Jährige ist seitdem schwerstbehindert. Sein Lebenswillen aber ist ungebrochen. Betreut wird Bob in einer Wohngruppe für Intensivpflege in Liegau-Augustusbad im Landkreis Bautzen. Reporterin Madeleine Arndt hat ihn besucht.

Es ist als betrete man einen Kokon, wenn man durch die Tür in die Intensivpflege von Liegau-Augustusbad geht. Alle Geräusche sind gedämpft, die Wände strahlen unaufdringlich in sanftem Weiß und mattem Gelb, leise summen Geräte. In einem der Reihenhäuser, zu denen der Saal der einstigen Rödertalschenke umgebaut wurde, hat die Firma AIR Kranken- und Intensivpflege GmbH eine Wohngruppe für fünf schwerst pflegebedürftige Menschen eingerichtet.

Saskia Hahmann huscht zur Begrüßung um die Ecke in den Flur und entschwindet gleich wieder. Es gibt noch ein paar Handgriffe in der Küchenzeile zu erledigen. Kein Klappern, kein Scheppern dabei. Ich betrachte in der Zeit den aufgemalten Baum mit seinen übergroßen bunten Schmetterlingen an der Wand am Eingang. An den Zweigen hängen die Fotos der Mitarbeiter des Pflegeteams. Es könnte gut und gern der Eingangsbereich einer Kita sein. Ist es aber nicht. Aus einem offenen Zimmer winkt ein schmächtiger Mann mittleren Alters. Er liegt im Bett, lächelt, ich winke zurück. 

Das Nesthäkchen der Wohngruppe

Da ist auch schon Saskia Hahmann bei mir. Wir haben uns an diesem Vormittag zu einem Gespräch beim Jüngsten der Wohngruppe verabredet, dem Nesthäkchen sozusagen. Er heißt Bob, ist 19 Jahre alt und von Geburt an schwerstbehindert. Extremer Sauerstoffmangel bei der Geburt hatte seine Gehirnfunktionen eingeschränkt, nicht aber seinen Lebenswillen.

Pflegerin und Patient.
Bob wird seit etwa einem Jahr in der Wohngruppe betreut. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Bis letztes Jahr sei er noch zu Hause mithilfe des Pflegedienstes von seiner alleinerziehenden Mutter versorgt worden. Dann habe sie entschieden, dass es Zeit für die Wohngruppe sei. "Andere 18-jährige Jungs ziehen ja auch bei ihrer Familie aus, habe sie gesagt", erklärt die Teamleiterin der Wohngruppe.

Schwere neurologische Grunderkrankungen

Bob sitzt im Rollstuhl vor seinem Pflegebett. Hinter ihm scheint die Mai-Sonne durch das halb geöffnete Terrassenfenster. Der 19-Jährige ist schmal und wiegt gerade einmal 40 Kilo. "Für uns ist er immer noch ein Kind, auch in der Versorgung", sagt die gelernte Kinderkrankenschwester.

Vor zehn Jahren gründete Saskia Hahmann gemeinsam mit ihrem Mann Patrick und dem Compagnon Daniel Hammer das Pflege-Unternehmen. Lange Zeit hatte das Ehepaar im Krankenhaus auf der Intensivstation gearbeitet. Dann wagten sie den Schritt in die Selbstständigkeit. Heute zählt die Firma 100 Mitarbeitende.

Intensivpflege bedeutet, schwerstbeeinträchtigte Menschen, die auch nicht eigenständig atmen können, zu versorgen.

Saskia Hahmann Teamleiterin der Wohngruppe

"Wir fahren dreigleisig. Wir haben die Intensivpflege in Radeberg, die ambulante Pflege zu Hause, wo wir mit dem Auto hinfahren und Seniorenwohngruppen in Arnsdorf, Großröhrsdorf und Bischofswerda." Intensivpflege bedeute, schwerstbeeinträchtigte Menschen, die auch nicht eigenständig atmen können, zu versorgen. Häufig haben sie schwere neurologische Grunderkrankungen.

Betreuung rund um die Uhr, Tag und Nacht

Bob braucht rund um die Uhr jemanden, der sich um ihn kümmert und ein Auge auf ihn hat. Er kann nicht sprechen, nicht schlucken, nicht alleine sitzen. Der Tee, der hinter ihm in einer eigens beschrifteten Thermoskanne warm gehalten wird, geht letztlich über eine Sonde in seinen Magen. Genauso das Essen, das frisch zubereitet und dann püriert wird. Selbst beim Atmen unterstützt ihn eine Maschine.

Tisch mit Kaffeekanne und weiteren Gegenständen.
Der Tee für Bob wird in einer eigens beschrifteten Thermoskanne warm gehalten. Das Getränk kommt über eine Sonde in den Magen. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Gerade hat der junge Mann einen guten Lauf und atmet selbstständig. Wir beschließen, uns kurz raus in die Sonne zu setzen. Saskia Hahmann wischt mit einem Spucktuch seinen Mundwinkel und schiebt Bob dann mit dem Rollstuhl geschickt auf die Terrasse, wo hinter der grünen Wiese die Röder entlangfließt. Eine Pflegerin reicht noch schnell ein Basecap hinterher. Denn die Sonne blendet.

Immer mehr Pflegebedürftige in Sachsen In Sachsen steigt die Zahl pflegebedürftiger Menschen weiter an. Bis zum Jahr 2035 rechnet das Statistische Landesamt in Kamenz mit einem Plus von fünf Prozent. Dann läge die Zahl bei 326.000 Menschen. Pflegekräfte werden deshalb weiter dringend gebraucht.

Feine Antennen für Bedürfnisse entwickeln

Da sich Bob nicht äußern kann, ist schwer einzuschätzen, was er von all den Dingen mitbekommt. "Wir wissen, dass er Geräusche wahrnimmt und Stimmen erkennt. Auch kann er hell und dunkel unterscheiden", sagt Saskia Hahmann. Er liebe es zu duschen oder zu baden. "Dass er entspannt ist, merkt man an seiner Atmung und der Herzfrequenz", erklärt sie. "Wir haben auch den Eindruck, dass er lächeln kann."

Für den Gemütszustand ihres Patienten haben die Pfleger und Pflegerinnen feine Antennen entwickelt. Sie merken schnell, wenn sich Bob aufregt oder kurz vor einem epileptischen Anfall steht. "Dann müssen wir ihn abschirmen", sagt die 47-Jährige. Was bedeutet, dass für Ruhe im Zimmer gesorgt wird, ohne äußere Reize. Auch helfe es, Bob über den Kopf zu streichen.

Pflegerin und Patient auf Terasse.
Raus an die Luft: Saskia Hahmann schiebt Bob auf die Terrasse vor sein Zimmer. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Zustand halten und Komplikationen vermeiden

Das Ziel der Intensivpflege sei es in erster Linie, den Zustand eines Patienten zu halten, erklärt Saskia Hahmann, also Komplikationen wie etwa eine Lungenentzündung zu vermeiden. "Ja, und vielleicht auch Verbesserungen herbeizuführen", schiebt sie mit sachter Stimme nach. Das Schöne an ihrer Wohngruppe sei, dass sie die Menschen hier lange begleiten könnten. Über Monate bis Jahre. "Man wird automatisch Teil der Familie."

Das Ziel ist den Zustand des Patienten zu halten und vielleicht auch Verbesserungen herbeizuführen.

Saskia Hahmann Teamleiterin der Wohngruppe

In der Wohngruppe kümmern sich in Zwölf-Stunden-Schichten Tag und Nacht immer eine Pflegefachkraft mit einer Spezialausbildung und eine Pflegeassistenz um die fünf Schwerstbehinderten. Die Anforderungen an Pflegekräfte, die in der Intensivpflege arbeiten, seien sehr hoch. Eine Spezialausbildung und jahrelange Berufserfahrung seien Voraussetzung, sagt Saskia Hahmann. Und die Arbeitszeit ist lang, stimmt sie nickend zu. Aber als Ausgleich gebe es dann wieder mehrere Tage am Stück frei.

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Zu Bobs persönlichen Sachen gehören die Kuschelkissen im Bett und ein Rekorder, um Musik und Hörspiele abzuspielen. Bildrechte: MDR/Madeleine Arndt

Die grelle Mittagssonne hat uns wieder in Bobs Zimmer getrieben. Der junge Mann wirkt unruhig. Seine Augen wandern. Ich will den Besuch nicht überstrapazieren und verabschiede mich. Mein Blick schweift noch einmal über die Kuschelkissen auf dem Bett und bleibt auf einem schwarzen Rekorder auf einem Regal hängen. "Hört Bob Musik?", frage ich.  "Ja, und auch Hörspiele, wie "Die drei Fragezeichen" und "Das Dschungelbuch", sagt die Teamleiterin. Ein Pfleger hatte auch mal Rockmusik und Metal mitgebracht. Das habe ihm auch gefallen.

AIR Kranken- und Intensivpflege GmbH Die Pflegefirma arbeitet seit zehn Jahren im Dresdner Raum sowie im Landkreis Bautzen.
Sie hat vier Standorte in Liegau-Augustusbad, Arnsdorf, Großröhrsdorf und Bischofswerda.
Neben der ambulanten Pflege haben sich die Mitarbeiter auf die Beatmungs- und Intensivpflege spezialisiert.

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 11. Mai 2023 | 12:00 Uhr

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