
Femizide "Ich hatte Todesangst": Eine Thüringerin berichtet von ihren Gewalterfahrungen
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25. April 2025, 06:08 Uhr
Anne (Name geändert) aus Thüringen hat einen gewaltsamen Angriff ihres Ex-Partners überlebt. Hier erzählt sie von dem Tag, der ihr Leben verändert hat. Expertinnen berichten, dass solche Taten nur die Spitze des Eisbergs sind – Gewalt gegen Frauen beginnt schon viel früher und wird oft übersehen.
Im Dezember 2024 ist Anne bei ihrem Ex-Freund in Apolda zu Besuch. Die beiden pflegen noch immer eine Freundschaft. Die Beziehung war liebevoll, sie haben noch immer viele gemeinsame Interessen. Anne und er sind zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren getrennt. Sie ist Ende 20, er Ende 30.
Statistisch gesehen versucht täglich ein Mann in Deutschland, seine (Ex-)Partnerin umzubringen. Anne ist eine Frau, die einen Angriff ihres Ex-Partners überlebt hat. Die folgenden Schilderungen stammen aus ihren Erinnerungen.
Ihr Ex-Partner holt Anne vom Bahnhof ab. Er ist während des Treffens seltsam aufgekratzt und beginnt schließlich, auf Anne einzureden: Er würde sie immer noch lieben, sie sollten wieder zusammenkommen. Als sie nicht darauf eingeht, gibt er ihr aus dem Nichts eine Ohrfeige. Er ruft sie ins Schlafzimmer und nimmt seine Jagdwaffe aus dem Waffenschrank. Sagt ihr, sie könne ihm vertrauen, die Waffe sei immerhin nicht geladen: "Anne, vertraust du mir?", fragt er.
Schließlich lädt er die Waffe doch. "Klick, klick" macht es beim Einsetzen der Munition, erzählt Anne. Er wirft sie aufs Bett und schlägt ihr mehrmals ins Gesicht. Es habe sich angefühlt, als würde ihr Kopf wegfliegen. Anne versucht, sich zu schützen, ruft um Hilfe. Als es ihr endlich gelingt, sich loszureißen und ins Wohnzimmer zu rennen, läuft er hinterher. Er redet weiter auf sie ein, zwingt sie zu einem Kuss.
Danach verwüstet er die Wohnung, was Anne wenigstens die Chance gibt, die Waffe zu verstecken. Es ist fast Mitternacht, am Rand von Apolda. Sie kommt hier nicht weg. Anne beschließt, die Polizei zu rufen, kommt jedoch nicht dazu zu wählen, weil er sie an die Wand drückt und würgt.
In diesem Moment habe ich wirklich gedacht: Das war's jetzt für mich.
Anne denkt an ihre Tochter und daran, dass jetzt wohl alles vorbei ist - und das nur, weil dieser Mann entscheidet, dass es so sein soll. "Ich ende jetzt, weil ein Mann ausflippt", denkt sie in diesem Moment.
Anne hat Todesangst. Nur weil er schließlich von ihr ablässt, kann sie ins Bad flüchten und der Polizei ihre Adresse durchgeben. Er verwüstet weiter die Wohnung, bis die Beamten eintreffen. Sie bringen ihn schließlich in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung.
März 2025: Frau in Gera angezündet
Im März 2025 schockierte eine Tat in Gera die Öffentlichkeit, bei der ein Mann seine Frau in der Straßenbahn mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet haben soll. Die Hintergründe des Angriffs sind noch nicht abschließend geklärt. Die Frau überlebte den Angriff. Auch hier scheint es sich um einen extremen Fall partnerschaftlicher Gewalt zu handeln: Der Ehemann der Frau wurde als Tatverdächtiger festgenommen.
Gewalt in der Partnerschaft ist Alltag in Deutschland
Extreme Gewalttaten, wie die gegen Anne oder die Frau in der Straßenbahn in Gera, sind nur die Spitze einer Pyramide, wie Florentine Schmidt erklärt. Sie ist Beraterin im Frauenzentrum Brennessel e.V. in Erfurt, wo Frauen in Notlagen Hilfe finden. Partnerschaftliche Gewalt beginne schon vor gewaltsamen Übergriffen: Die Basis seien Degradierung, Kleinmachen und Abwertung durch den Partner. Darauf folgten soziale Isolation, Abgrenzung von Familie und Freunden, finanzielle und schließlich körperliche Gewalt. Bei finanzieller Gewalt wird der Partnerin beispielsweise der Zugriff auf das gemeinsame Konto verwehrt. Femizide stellten die gravierendste Form von Gewalt gegen Frauen dar, so Schmidt.
Definition Femizide Bei Femiziden handelt es sich um die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind. Femizide sind durch hierarchische Geschlechterverhältnisse motiviert. In einigen Ländern, zum Beispiel in Spanien, sind Femizide ein eigener Straftatbestand. Bundeszentrale für politische Bildung
Psychotherapeutin und Soziologin Dr. Anita Scheuermann, derzeit an der Universität Ulm tätig, ordnet die Tat in Gera als versuchten Femizid ein. Der Ehemann habe seine Frau mutmaßlich töten wollen, eben weil sie eine Frau ist. Dem Thüringer Sozialministerium zufolge ist das mutmaßliche Motiv die kurz zuvor erfolgte Trennung der Eheleute. Auch das Ministerium spricht von einem versuchten Femizid.
Diese Schrecklichkeit ist tragischer Alltag.
Der Fall in Gera mute spektakulär an, aber "jeder Femizid ist äußerst tragisch und brutal", sagt Scheuermann. Die Tat in Gera sei kein Einzelfall. Das sieht man an Statistiken und Geschichten wie Annes.
Frauen sind von Männergewalt betroffen.
Scheuermann zufolge wäre die Einführung des Femizids als Straftatbestand in Deutschland sinnvoll, da Verurteilungen so einfacher seien und Strafen höher ausfallen würden. Außerdem werde so deutlich, dass der Tod der Frau in einem solchen Fall einen strukturellen Hintergrund habe und kein Einzelfall sei. In Deutschland ist es oft schwer, Tötungen von Frauen als Mord zu verurteilen, da dafür ein niedriger Beweggrund nötig ist - Misogynie oder gekränkte Männlichkeit werden von Gerichten oft nicht als offenkundige Motive der Täter angenommen. Somit werden Tötungen von Frauen oft als Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt und nicht als Mord.
Was bedeutet "Misogynie" Das aus dem Altgriechischen stammende Wort Misogynie bedeutet Frauenfeindlichkeit oder Frauenhass. Es setzt sich zusammen aus „misos“ für Hass und „gyne“ für Frau. Misogynie beschreibt eine emotionale und hasserfüllte Haltung, vorwiegend von Männern, seltener von Frauen. Friedrich-Ebert-Stiftung
Gewalt geht oft von Personen im sozialen Umfeld aus
Tatsächlich geht Gewalt gegen Frauen in den meisten Fällen von Menschen in ihrem direkten sozialen Umfeld aus. "Der Fremdtäter ist der Allerseltenste", berichtet Florentine Schmidt vom Frauenzentrum aus ihrer Erfahrung. Anita Scheuermann bestätigt diese Beobachtungen.
Mit diesem Menschen habe ich vier Jahre das Bett geteilt, er wusste alles von mir.
Auch Anne hat Gewalt durch eine Person erfahren, bei der sie damit niemals damit gerechnet hätte. Einer Person, die sie einmal geliebt hat. "Mit diesem Menschen habe ich vier Jahre das Bett geteilt, er wusste alles von mir", sagt sie. Anne erzählt, dass es ihr zunächst schwergefallen sei, ihren Ex-Partner für den Angriff zu verurteilen: Er sei psychisch verwirrt gewesen und sie wolle ihm trotz allem nichts Böses. Doch mittlerweile weiß sie: "Er ist vielleicht das Opfer einer Krankheit, aber ich bin trotzdem das Opfer seiner Tat."
Wie man auf gewaltsame Übergriffe aufmerksam werden kann
Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, ist es wichtig, sie frühzeitig zu erkennen. Florentine Schmidt erzählt von Partnern, die allmählich immer mehr Kontrolle über ihre Partnerin ausüben wollen. Ein Anzeichen seien auch Wutausbrüche, gefolgt von einer Entschuldigung, daraufhin aber wieder einem Ausbruch. Außenstehende können häusliche Gewalt an Verletzungen erkennen, viele betroffene Frauen würden sich auch sozial zurückziehen: Sie melden sich weniger bei ihrer Familie oder Freundinnen oder erzählen kaum etwas aus ihrem Privatleben. Wichtig sei es, sich Hilfe zu suchen - bei Freunden und Familie, aber auch professionell, so wie Anne es getan hat.
Gewaltaten vor allem im häuslichen Raum
In Thüringen ist laut Lagebericht der Polizei 2023 alle 80 Minuten ein Mensch Opfer häuslicher Gewalt geworden, in den meisten Fällen Mädchen und Frauen. Der Polizei zufolge lag in dem Jahr der Anteil von häuslicher Gewalt, die vom Partner ausging, in Thüringen bei 57,5 Prozent. Täter waren auch Eltern (27,8 Prozent) und Kinder (33,3 Prozent). 2023 gab es der Thüringer Polizei zufolge 6.551 Opfer von häuslicher Gewalt in Thüringen, die Dunkelziffer soll jedoch wesentlich höher sein.
Der gefährlichste Ort für eine Frau ist das eigene Zuhause.
"Der gefährlichste Ort für eine Frau ist das eigene Zuhause", sagt Florentine Schmidt. Und nicht, wie es so oft heißt, "die Straße oder der Park." Schmidt beobachtet dabei eine beunruhigende "Fokusverschiebung" in der Gesellschaft, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Zwar sollen Frauen geschützt werden, doch das Augenmerk liege auf ihrem Schutz in öffentlichen Räumen. Private Räume, wie das eigene Zuhause, werden dabei oft vernachlässigt.
Gewalt gegen Frauen muss in der Gesellschaft sichtbarer werden
Scheuermann nennt als wichtige Maßnahme gegen Gewalt an Frauen die Sichtbarkeit des Themas. Ob Flyer, Sticker, Werbeanzeigen oder Online-Kampagnen - alles würde helfen, um dem Thema die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Auch Anne wünscht sich, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. Deshalb hat sie sich dazu entschieden, öffentlich von ihrer Erfahrung zu berichten.
Auch die Prävention auf Täterseite spielt laut Scheuermann eine große Rolle: Zu oft liege die Verantwortung lediglich bei den Opfern anstatt bei den Tätern. In diesem Zusammenhang spielt Scheuermann zufolge die sogenannte "Täterverunsichtbarung" eine große Rolle: Bei Gewalt gegen Frauen werde es oft so dargestellt, als würde die Gewalt von einem unsichtbaren Täter ausgehen. Das sei auch bei der Tat in Gera zu beobachten: Schlagzeilen wie "Frau in der Straßenbahn angezündet" schaffen ein Bild des "ominösen Täters". Dem entgegenwirken könne man, indem Täter klar und deutlich als solche benannt werden, zum Beispiel in der medialen Berichterstattung.
Anne ist heute sehr wütend darüber, was ihr widerfahren ist. Sie lebt mit den Konsequenzen der Tat ihres Ex-Partners, leidet unter Panikattacken. Die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung gegen ihren Ex-Partner, doch bis zum Prozess wird es vermutlich noch dauern: Anne musste zwar bereits eine Aussage wegen des Waffenmissbrauchs und Cannabiskonsums ihres Expartners machen, doch noch keine wegen der Körperverletzung gegen sie.
Wie im Frauenhaus Erfurt geholfen wird
Florentine Schmidt leistet im Frauenzentrum einen unmittelbaren Beitrag zum Schutz von Frauen. Sie und ihre Kolleginnen beraten Frauen in Notsituationen, geben ihnen Informationen zum Erstatten von Anzeigen, zu anonymer Spurensicherung und Frauenhäusern. Sie vermitteln Anwältinnen und leisten auch psychosoziale Hilfe, damit Traumata möglichst wenig langfristige Folgen haben.
Auch Anne nimmt psychologische Hilfe in Anspruch und möchte sich rechtlichen Beistand suchen. Sie hat bereits ein Annäherungsverbot für ihren Expartner erwirkt, er darf sich ihrer Wohnung und der Schule ihrer Tochter nicht mehr nähern.
Im Frauenhaus Erfurt finden Frauen einen Zufluchtsort, wenn betroffene Frauen und ihre Kinder sich akut in Gefahr befinden. Der Kontakt kommt per Telefon zustande, woraufhin eine Mitarbeiterin des Frauenhauses sich mit der Betroffenen trifft und sie zum Frauenhaus begleitet. Die Adresse des Frauenhauses ist anonym, sodass Betroffene dort in Sicherheit sind.
Frauen bekommen im Frauenhaus unter anderem Rechtsberatung. Außerdem sei es wichtig, ihre Existenzsicherung zu klären, so Marjana Dunkel, Mitarbeiterin im Frauenhaus. Die Solidarität unter den betroffenen Frauen spiele eine große Rolle, sie finden im Frauenhaus einen Ort der Ruhe. Allerdings sei das Frauenhaus überfüllt. Dunkel erzählt, dass es auch schon vorgekommen ist, dass Frauen kein Platz angeboten werden konnte - "das ist gesellschaftlich nicht akzeptabel", sagt sie. Zum 1. Januar 2025 sind Frauenhäuser in Thüringen in die Zuständigkeit des Landes übergegangen. Damit haben gewaltbetroffene Frauen in Thüringen als bislang einzigem Bundesland einen Rechtsanspruch auf einen Schutzplatz.
Anne sei heute froh, Wut statt Angst zu fühlen. Ihren 30. Geburtstag verbringt sie mit ihrer Mutter und ihrer Tochter - zu ihrem Ex-Partner will sie nie wieder Kontakt haben.
Wie sollten sich Angehörige von Betroffenen verhalten?
Auch wenn man häusliche Gewalt beobachtet, kann man sich bei Beratungsstellen melden, um gemeinsam weitere Schritte zu planen. Auf keinen Fall sollte die betroffene Frau unter Druck gesetzt oder Maßnahmen gegen ihren Willen eingeleitet werden, auch wenn es schwerfällt. Wichtig ist es, Unterstützung zu zeigen und nachzufragen, was die Person braucht (Quelle: Frauen gegen Gewalt e.V.).
Hilfe finden Sie beim kostenfreien Hilfetelefon für Frauen unter 116016.
MDR (ams)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 18. März 2025 | 11:00 Uhr
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