Der Schatten eines Mannes ist neben dem letzten erhaltenen Gitterfenster des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau zu sehen
Kinderheime in der DDR waren häufig ein Ort der Erniedrigung und von Gewalt. Eine neue Studie aus Leipzig wirft einen umfangreichen Blick auf die Erfahrungen von Betroffenen. Bildrechte: picture alliance/dpa/Peter Endig

SED-Unrecht Neue Studie über Gewalt in DDR-Kinderheimen: "Erheblicher Nachholbedarf"

20. März 2023, 18:37 Uhr

Rund eine halbe Million Kinder und Jugendliche waren zwischen 1949 und 1990 in DDR-Kinderheimen und sogenannten Jugendwerkhöfen untergebracht. Häufig erlebten sie dort emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlungen und sexualisierte Gewalt. Der Forschungsverbund Testimony unter Federführung der Universität Leipzig hat drei Jahre lang mit Betroffenen gesprochen und neue Therapieansätze entwickelt. Ihr Abschlussbericht fordert eine stärkere Aufarbeitung und bessere Hilfsangebote.

Bettina Monse hat viele Jahre Menschen geholfen, die in Kinderheimen der DDR seelisches und körperliches Leid erfuhren. Der Psychologin geht der Fall einer heute 70-jährigen Frau nicht mehr aus dem Kopf, die unbedingt wollte, dass ihr Mann im Wartebereich bleiben sollte. "Bei mir hat die Dame zum ersten Mal über ihre Kindheitserfahrung gesprochen, die sie im häuslichen Umfeld, im Kinderheim und in der Pflegefamilie machen musste", erzählt Monse.

Im Kinderheim sei ihre Patientin von einem Nachtwächter regelmäßig in der Waschküche sexuell missbraucht worden. Eines Tages hätte sie dort, bei der Matratze, eine Plastikspange gefunden und an sich genommen. "Das wurde dann ihr Talisman. Weil er ihr erzählt hat: 'Du bist nicht allein. Das was du erlebst, müssen auch andere erleben.'"

Neue Studie mit umfangreichen Überblick über DDR-Kinderheime

Eine halbe Million Kinder und Jugendliche waren zwischen 1949 und 1990 in DDR-Kinderheimen und sogenannten Jugendwerkhöfen untergebracht gewesen. Die Heime sollten den Willen der Minderjährigen formen, damit sie angepasst sind und funktionieren können im Sinne der sozialistischen Gemeinschaft – wenn nötig auch mit Gewalt.

Über das Erlebte haben die Betroffenen viele Jahre lang geschwiegen. Im Rahmen der Studie Testimony, die unter der Leitung der Universität Leipzig entstanden ist, haben Forscher und Forscherinnen mit insgesamt 273 Betroffenen gesprochen, Akten gesichtet und Therapieansätze entwickelt. Ihr am Montag präsentierter Abschlussbericht gibt erstmals einen umfangreichen Überblick über die mannigfaltigen Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder.

Kinderheime von physischer und psychischer Gewalt geprägt

Nicht jeder der Betroffenen berichtet von negativen Erlebnissen, sagt die Leiterin der Studie Prof. Dr. Heide Glaesmer. Dennoch zeige sich insgesamt ein Bild einer Institution, die die Bedürfnisse von Minderjährigen auf allen Ebenen vernachlässigte. "Viele der Menschen mit DDR-Heimerfahrungen mussten nicht nur traumatische Erfahrungen in den Heimen machen, sondern erlebten häufig bereits in der Herkunftsfamilie Missbrauch und Vernachlässigungen, oft mit langfristigen psychosozialen Folgen."

So wären rund 70 Prozent der Befragten in ihrer Jugend körperlich misshandelt worden, ein Drittel davon hätten die physische Gewalt direkt in den Erziehungsanstalten erfahren. 17 Prozent gaben an, in den Heimen sexuell missbraucht worden zu sein. Besonders in den Spezialheimen, die für "Härtefälle" vorgesehen waren, hätten sich die Misshandlungen gehäuft, zeigt die Studie. Berüchtigt war der geschlossene Jugendwerkhof in Torgau. Hier standen Einzelarrest und weitere Formen der Erniedrigung an der Tagesordnung.

Jugendwerkhof Torgau (historische Aufnahme)
Der Jugendwerkhof in Torgau galt bei Betroffenen als "Endstation". Bis 1989 waren insgesamt mehr als 4.000 Jugendliche hier untergebracht. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Teilnehmenden der Testimony-Studie verbrachten zwischen zwei Monaten und 18 Jahren in den Einrichtungen. Manche wechselten bis zu 14. Mal die Institution. Die fehlenden Bildungsmöglichkeiten sowie die körperlich oft anstrengende, nicht bezahlte Arbeit in den Heimen habe zudem ein Leben nach der Entlassung erschwert. Einer von fünf Studienteilnehmenden landete demnach als erwachsene Person später im Gefängnis.     

Forschungsgruppe fordert Anerkennung und bessere Hilfsangebote

"Eine Wiedergutmachung der negativen Erfahrungen ist für Menschen mit DDR-Heimerfahrung nicht möglich, es gibt jedoch Möglichkeiten, ihnen öffentlich Anerkennung und Respekt zu zollen und entstandenes Leid anzuerkennen und abzumildern", schreibt die Forschungsgruppe in ihrem Abschlussbericht. Sie fordern eine proaktive Aufarbeitungspolitik wie beispielsweise medienwirksame Interessensvertretungen. Hier gebe es noch einen "erheblichen Nachholbedarf".

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Zudem sollen auch Therapeuten und Therapeutinnen besser geschult werden, um auf die spezifischen Bedürfnisse der ehemaligen Heimbewohner eingehen zu können. Das betreffe ebenso die Altenpflege. Viele Studienteilnehmenden hätten große Bedenken geäußert, im Alter wieder einer staatlichen Institution ausgesetzt zu sein.

Auch müsse die Akteneinsicht verbessert werden, damit Betroffene ihre eigene Biographie besser nachvollziehen können und Entschädigungsleistungen leichter erhalten.

Eine Wiedergutmachung der negativen Erfahrungen ist für Menschen mit DDR-Heimerfahrung nicht möglich.

Forschungsverbund Testimony

Vier geteilte Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten

Die Testimony-Studie war in vier deutschlandweite Teilprojekte unterteilt. Die Uni Leipzig befragte anhand von Fragebögen Menschen mit Heimerfahrungen. Die Medical School Berlin entwickelte ein Online-Schreibprogramm, das therapeutisch angeleitet und begleitet wurde.

Bild einer Frau mit abgedecktem Gesicht und einem Kleinkind auf dem Schoß, das einen Plüschbären in Händen hält. Daneben steht „Als Mutti in den Westen ging“. mit Video
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Die Alice Salomon Hochschule Berlin konzentrierte sich auf Heimkinder mit sexueller Gewalterfahrung und die Heinrich Heine Universität in Düsseldorf untersuchte speziell die medizinische Betreuung in den Einrichtungen.

Die Laufzeit der Studie endete im Jahr 2022. Eine zweite Förderphase des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts wurde abgelehnt. "Das ist sehr bedauerlich, weil wir vor allem Fachkräfte schulen und erreichen wollten", erklärt Dr. Glaesmer. Aktuell beschäftige man sich damit, wie man das Projekt doch noch fortführen könne.  

MDR (mad)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten | 20. März 2023 | 17:00 Uhr

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