Zurückgelassener Junge im Kinderheim
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Grenzöffnung: "Als Mutti in den Westen ging ..." Nach dem Mauerfall von den Eltern verlassen: ein Trauma fürs Leben

24. Mai 2024, 12:38 Uhr

Im November 1989 sind die Grenzen nach 28 Jahren endlich wieder offen. Doch die lang ersehnte Reisefreiheit wird für viele Kinder zum Trauma ihres Lebens: Unvorstellbar, dass es Eltern gibt, die in den Westen gehen und ihre Kinder einfach zurücklassen. Und doch ist es ein Schicksal, das viele Kinder in der untergehenden DDR erleiden. Einige von ihnen werden im Heim abgegeben, andere einfach in der Wohnung zurückgelassen. Katharina Vernau und ihren Bruder Steffen gibt die Oma im Heim ab. Katharina kann ihre Mutter auch nach über drei Jahrzehnten nicht verstehen.

"Warum setzt man ein Kind in die Welt, wenn man es nicht will?" Diese Frage stellt sich Katharina Vernau wieder und wieder. Eine Antwort darauf hat die heute 33-Jährige und Mutter von fünf Kindern bis heute nicht gefunden. Sie sagt: "Es hatte einfach Folgen fürs ganze Leben. Für alle Kinder. Alle." Und man sieht ihrem ernsten Gesicht an, dass das wirklich so ist.

In den ersten Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer wurden hunderte Kinder allein und oft auch völlig unversorgt in Ostdeutschland zurückgelassen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber es müssen Hunderte gewesen sein. Es ist eines der dunkelsten Kapitel der Zeit nach dem Mauerfall. In einem crossmedialen Doku-Projekt erzählt der MDR die Schicksale dieser Kinder. Katharina Vernau wird durch die Arbeiten am Film auch mit Aufnahmen aus Kindertagen konfrontiert. Auch damals wurde über ihr Schicksal berichtet.

Weinen als Antwort

Katharina Vernau sieht bei den Filmaufnahmen zur Dokumentation "Als Mutti in den Westen ging" die einzigen Kinderbilder von sich aus dieser Zeit. Sie sieht sich weinen und fragt: "Wie kann man das einem Kind einfach antun? Ich verstehe es nicht. Gerade, wenn man selber Kinder hat, man versteht es einfach nicht." Es ist ein Rückblick, der so vieles erklärt aus ihrem Leben.

Ich weiß jetzt nicht, warum ich da im Film gerade weine, aber ich habe selber gehört, dass ich früher sehr viel geweint habe, dass ich total verstört gewesen bin.

Verlassene DDR-Kinder leiden bis heute unter den Folgen

Die Erfahrung, als kleines Kind von ihren Eltern verlassen zu werden, beeinflusst das ganze Leben. Das blinde Vertrauen, das Kinder normalerweise zu ihren Eltern aufbauen, bleibt verlassenen Kindern verwehrt. Im Heim hatte Katharina Vernau oft nach der Mutter gefragt. Doch deren Freiheitsdrang war größer als Mutterliebe und Verantwortungsgefühl. Katharina Vernau berichtet heute, alles, was Gefühle betreffe, sei für sie schwierig.

Ich kann keine Nähe zulassen, ich kann sie nicht geben, ich kann auch keinen an mich ranlassen. Ich traue niemandem.

Durch die traumatische Erfahrung, als Kleinkind verlassen worden zu sein, hat Katharina Vernau das Gefühl, alles kontrollieren zu müssen: "Ich kann auch niemandem irgendwas überlassen. Ich brauche die Kontrolle, will die Kontrolle nicht verlieren. Ich habe immer Angst, dass, wenn ich mich nicht um etwas kümmere, dass es keiner macht." Die Kindheitserlebnisse hatten auch Einfluss auf Katharinas Beziehungen im Erwachsenenleben, ist sich die junge Frau sicher.

Dadurch ist meine erste Ehe kaputt gegangen, weil mein Exmann natürlich super behütet aufgewachsen ist und natürlich damit überhaupt nicht zurechtgekommen ist, dass ich ihm das nicht geben kann. Das geht einfach nicht.

Katharina und ihr jüngerer Bruder kommen später in eine Adoptivfamilie. Die leibliche Mutter werden sie nie wiedertreffen. Warum, erzählt sie im Film nicht. Die Mutter soll nach ihrer Flucht vor den eigenen Kindern in einem Krankenhaus in Bayern gearbeitet haben. Ausgerechnet auf der Kinderstation. Als dort die Chefs von der Tragödie erfahren, soll sie entlassen worden sein.

Wenn Eltern ihre Kinder verlassen

Katharina selbst hat heute fünf Kinder. Auch deswegen hat sie kein Verständnis für das Verhalten ihrer eigenen Mutter. Immer wieder taucht die Frage nach dem Warum auf.

Man fragt sich, warum setzt man ein Kind in die Welt, wenn man es nicht will? Wenn man nicht mit allen Mitteln sich um dieses Kind kümmern möchte. Mit allem, was es mit sich bringt. Das kann ich mir doch vorher überlegen, ob ich das möchte. Vor allem muss ich ja dann nicht noch ein Kind bekommen und noch ein Kind, um es dann am Ende zurückzulassen - um im Prinzip die Kindheit zu zerstören. Es hatte einfach Folgen fürs ganze Leben.

Es ist die Mutter, die den zurückgelassenen Kindern das Wichtigste genommen hat: das Urvertrauen, dass Mütter nur das Beste für ihr Kind wollen.

Als Mutti in den Westen ging 25 min
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Fragen und Schmerzen, die bleiben

Im Film kommt Katharina Vernau als starke Persönlichkeit rüber. Dennoch ist der Bruch aus ihrer Vergangenheit spürbar und die offenen Fragen aus ihrer Kindheit, auf die sie keine Antwort findet, merklich quälend: "Man kann es gar nicht wirklich sagen, wie man sein muss, um so zu sein wie meine Mutter. Einfach nur kalt, abgeklärt und egoistisch. Also, was anderes kann ich mir nicht vorstellen, wie man sein kann, um sowas zu tun. Kinder einfach zurückzulassen. Und dann auch komplett damit abzuschließen und zu sagen, es interessiert mich nicht mehr, es gehört mir nicht mehr."

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Als Mutti in den Westen ging | 10. November 2020 | 22:10 Uhr

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