Arbeitsbedingungen Unfälle, mieses Schichtsystem: Betriebsratsgründung bei Lieferando Leipzig

24. November 2022, 05:30 Uhr

Lieferando gilt als Plattform-Konzern, der seine Gewinne anteilig pro Essensbestellung generiert aber wenig Verantwortung für seine Beschäftigten übernimmt. Den Mitarbeitern von Lieferando ist es jetzt gelungen, am Standort Leipzig erstmalig eine Arbeitnehmervertretung zu gründen. Betriebsrat Matthäus Riedel erklärt MDR SACHSEN, was beim Lieferdienst falsch läuft und wie die Beschäftigten die Betriebsratsgründung angegangen sind.

Was läuft falsch bei Lieferando?

Matthäus Riedel: Es gibt ein paar Sachen, die stoßen uns auf. Sie umfassen kurzgefasst: Arbeitsmittel, Arbeitswege und Arbeitssicherheit. Beispielsweise sind die E-Fahrräder sehr schnell und sehr schwer. Besonders kleine und leichte Leute haben Schwierigkeiten, das Fahrrad zu halten. Mit diesen Fahrrädern sind schon viele Unfälle passiert und viele blöde Unfälle, die nicht hätten sein müssen.

Was konkret?

Die Leute rutschen vor allem weg mit den Dingern. Die Räder haben Vollgummireifen ohne Luft und den Elektromotor als Vorderradantrieb. Wer das nicht gewohnt ist, muss tatsächlich erst einmal üben. Das Vollgummi für die Räder wurde gewählt, damit sie leichter zu warten sind. Einmal in der Woche kommt ein mobiler Werkstatttransporter, der die Räder kontrolliert. Das sieht jedoch meist so aus, dass er in alle beweglichen Teile Öl einsprüht. Das geht auf jeden Fall besser. Hier ist viel Luft nach oben.

Der Zustand der Räder ist sicher nicht der einzige Kritikpunkt?

Nein. Wir fordern zum Beispiel auch, dass die Arbeitswege bezahlt werden.

Das ist aber nicht üblich?

Das kommt aus der Zeit, in der wir noch keinen Hub (ähnlich Filiale, Anmerk. der Redaktion) hatten, da fuhren die Fahrer die erste Lieferung von zu Hause - unbezahlt. Für Rider (Fahrer) mit eigenem Fahrrad ist das bis heute so. Doch auch für sie muss sich das noch ändern und die Arbeit von der ersten Dienstfahrt an bezahlt werden. Früher mussten wir auch unsere eigenen Handys benutzen. Das hat sich glücklicherweise schon geändert. Der Gesamtbetriebsrat hat bereits erkämpft, dass jeder sein eigenes Arbeitshandy bekommt. Es gibt also erste Erfolge. Zum Beispiel auch regelmäßige Lohnüberweisungen.

Vorher wurde der Lohn nicht regelmäßig überwiesen?

Nein. Bevor es den Gesamtbetriebsrat gab, wurde der Lohn immer irgendwann zwischen dem 11. und dem 15. des Monates überwiesen. Das ist jetzt viel regelmäßiger geworden. Hier merkt man, dass sich mit Druck Dinge ändern können.

Das klingt viel versprechend.

Ja, doch das Schichtsystem bleibt unser Knackpunkt. Damit kommen noch nicht einmal die Disponenten klar. Es wirkt immer wie provisorisch. Momentan ist es so, dass wir jeden Mittwoch Schichten für die kommende Woche wählen können. Gerade ist das kein Problem, weil es genug Schichten gibt. Doch im Sommer, als viel weniger Liefer-Aufträge eintrudelten, gab es plötzlich keine Schichten mehr.

Werden Sie pro Schicht bezahlt?

Ja, wir werden pro Schicht bezahlt. Eine Schicht dauert von zwei bis maximal fünf Stunden. Wir können auch zwei Schichten nacheinander buchen. Dann fehlt uns allerdings eine Pause. Wir loggen uns am Anfang in einer bestimmten Zone ein, dann kommen die Aufträge. Am Ende loggen wir uns aus.

Wenn Sie also keine Schicht bekommen, fließt auch kein Geld?

Genau. Die Verträge sind mit Mindeststunden und Maximalstunden deklariert. Ich habe beispielsweise einen Medi-Vertrag, mit mindestens 15 Stunden und maximal 30 Stunden pro Woche. Das kann gut laufen, muss aber nicht. Weil sich das Auftragsvolumen immer unter der Anzahl der Fahrer aufteilt – und beides schwankt sehr stark. Im Sommer habe ich beispielsweise über zwei Monate nur 15 Stunden pro Woche bekommen. Das war die Zeit, als Lieferando noch viel eingestellt hat, obwohl die Aufträge stagnierten. Anderen ging es noch viel schlechter.

Wieviel verdienen Sie pro Schicht?

Wir bekommen Mindestlohn, zwölf Euro pro Stunde. Jede Schicht ist mit fünf Stunden deklariert. Ich bekomme also ein garantiertes Einkommen von 180 Euro brutto in der Woche. Es wird viel gemacht und es soll viel verbessert werden, doch unsere existenziellen Bedürfnisse müssen beachtet werden. Das fordern wir und das soll sich ändern. Deswegen treffen wir uns am 28. November zur konstituierenden Sitzung und gründen den Betriebsrat Lieferando Leipzig.

Wie ist Ihnen die Betriebsratsgründung gelungen?

Wir haben den Vorteil, dass Lieferando in Deutschland schon einen Gesamtbetriebsrat hat. Dadurch gibt es viele Ansprechpartnerinnen und -partner, die wir fragen können, wie wir die Dinge richtig organisieren, damit wir neutral und unanfechtbar sind. Das war eine große Hilfe.

Wann entstand die Idee? Wie haben Sie als Belegschaft zusammengefunden?

Das ist eine berechtigte Frage. Denn eigentlich sind wir Konkurrenten im Schichtsystem. Alles begann damit, dass sich einige Riders (die Fahrer der Lieferdienste, Anmerk. der Redaktion) zusammenschlossen, um miteinander über die Arbeitsbedingungen bei Lieferando zu diskutieren. Daraus sind die 'Rideshare Drivers United' entstanden, die sich in Chats bei Telegram austauschten. Viele haben sich später mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zusammengesetzt und sind Gewerkschaftsmitglieder geworden. Die NGG hat Struktur in die Truppe gebracht. Vor einem halben Jahr haben zwei Fahrer die Sache in die Hand genommen und einen Wahlvorstand gegründet. Der ist nötig, wenn man einen Betriebsrat gründen will. Der Wahlvorstand organisiert die Wahl eines Betriebsrats.

Was ist ein Betriebsrat?

  • Ein Betriebsrat ist eine Arbeitnehmervertretung in Unternehmen und Konzernen. Seine Rechte und Pflichten sind im Betriebsverfassungsgesetz geregelt. Demnach sind Betriebsräte in allen Unternehmen ab fünf Beschäftigten dezidiert gesetzlich erlaubt - wenn sich mindestens drei Beschäftigte in den Betriebsrat wählen lassen.
  • Betriebsräte machen sich für die Belegschaft stark. Sie helfen bei individuellen Problemen und Konflikten am Arbeitsplatz und sie tragen zu mehr Demokratie im Betrieb bei. Betriebe mit Betriebsrat zahlen laut der Gewerkschaft "Verdi" im Schnitt höhere Entgelte, die Arbeitsplätze sind sicherer und die Arbeitsbedingungen besser.

... und dann wählten und gründeten Sie den Betriebsrat?

So einfach war es nicht. Der erste Versuch platzte. Ich war damals schon dabei. Nach dem NGG-Gewerkschaftstreffen habe ich mich auf die Liste setzen lassen. Doch die Wahl musste wegen Uneinigkeiten und Fehlern schließlich abgeblasen werden.

Wegen Fehlern? Was war der konkrete Grund?

Ich würde es als voreiliges Handeln bezeichnen. Man darf nicht vergessen, ein Betriebsrat agiert als juristische Person. Deswegen müssen alle Mitglieder in Entscheidungen involviert sein. Der damalige Wahlvorstand brach die Wahl jedoch ohne Absprache einfach ab, weil er davon ausging, dass ein Fehler im Wahlausschreiben war. Hier hat noch die Erfahrung gefehlt. Die wussten alle nicht, wie das genau funktioniert.

Nach dem Scheitern gab es doch bestimmt ein großes Tohuwabohu?

Natürlich. Da sind einige Leute wütend aus dem Raum gestürmt. Der Gewerkschaftschef in Leipzig war fuchsteufelswild. Ich wusste erst einmal gar nicht warum und was passiert. Doch dann hat mir meine Einstellung geholfen. Erst einmal zurücklehnen, mit Ruhe herangehen, alles anhören und dann Schritt für Schritt alles umsetzen. Ich habe auch gelernt, zur Arbeit des Betriebsrates gehört viel Kommunikation nach allen Seiten. Hier muss erst einmal viel synchronisiert werden.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 22. November 2022 | 20:00 Uhr

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