Von Pilzen und Flaschen Die Flaschensammler von Leipzig

29. Dezember 2022, 09:30 Uhr

8 Cent für eine einfache Bierflasche, 15 für eine mit Bügelverschluss oder eine Mehrwegflasche für Saft und Softdrinks und natürlich am meisten für die Büchsen: Pfandflaschen bleiben in Leipzig nicht lange auf der Straße stehen oder liegen, allerdings ist es auch kein ganz einfaches Geschäft: Nicht jeder Laden nimmt jede Flasche. Wer sind die Sammler und was treibt sie an? Und ist das Pfandsammeln in Leipzig wirklich gefährlich?

"Zähneputzen, pullern und ab ins Bett!" brüllen zwei Kinder vor dem Täubchenthal in Leipzig-Plagwitz. Sie sind Zaungäste vom "Knorkator"-Konzert, balancieren mit ihrem Vater auf einem Bauschutt-Container. Es riecht nach Betonbruch und altem Maschinenöl und der Blick vom Container auf die Band ist ziemlich gut. Noch mehr Passanten bleiben stehen, holen sich ein Bier aus dem Supermarkt, klettern rauf, hören zu. Die leeren Flaschen stellen sie an den Rand.

Dort bleiben sie für gewöhnlich nicht lange. Ida G.* ist eine, die die Flaschen mitnimmt: "Ich sammle keine Flaschen", stellt die 67-Jährige klar, sie sammele dies und jenes, gehe immer mit einem Extra-Beutel raus: "Ich nehme die mit, wenn ich die sehe. Das bessert meine Kasse auf - fürs Hundefutter. Oder wenn man sich selber mal eine Packung Eis kaufen will." Die Rentnerin hat nicht viel Geld, lässt sich aber nicht unterkriegen, kümmert sich um Beete in ihrer Straße, wenn sie kann und diesmal, diesmal hat sie Bücher in ihrem Beutel, was für den Kopf.

Oder wie Frank R.*, der sich auf dem Weg zum Supermarkt auf dem Wiedebachplatz bückt und "die Flaschen mitnimmt, die rumstehen", sagt er. Aus Spaß, nicht, weil er es nötig habe. Von 0 bis 20, die Ausbeute sei jeden Tag anders, das sei wie beim Pilze suchen. Und so wie es besonders gute Pilzstellen im Wald gibt, gibt es dem Rentner zufolge auch besonders gute Pfandfunde: "Am besten ist es, wenn man Büchsen findet. Das bringt am meisten Geld und ist am leichtesten zu tragen. Aber das wissen die anderen auch." Dabei sei das Abgeben der Flaschen mitunter eine Wissenschaft für sich, sagt der 69-Jährige: Bestimmte Sorten nehme der eine Markt nicht, der andere aber schon. "Das müssen sie wissen, sonst rennen sie sich dumm und dämlich!", sagt er, lacht und geht weiter Richtung Connewitzer Kreuz.

Am besten ist es, wenn man Büchsen findet. Das bringt am meisten Geld und ist am leichtesten zu tragen.

Frank R. Flaschensammler

Die beiden Männer, die gerade im Dunklen auf zwei Rädern samt Anhänger zum "Knorkator"-Konzert anrücken, interessieren die wenigen Flaschen am Container kaum. Zielsicher gehen sie zum Eingangsbereich des Konzertes, kommen mit Mülltonnen zurück, durchwühlen sie und schütteln die Flaschen leer. Sehr routiniert. Warum sie das tun, wie oft und wie das ist? Das wollen sie nicht sagen. Die Bitte, sie begleiten zu dürfen, lehnen sie ab. Zum einen aus der Furcht, dass nach Berichten noch mehr Leipziger Flaschen sammelten. Und zum anderen sei das gefährlich. Schließlich sei schon ein Sammler eines gewaltsamen Todes gestorben.

Spekulationen um "Revierkämpfe"

Tatsächlich gibt es einen Kriminalfall um einen Flaschensammler: Die Polizei ermittelt noch immer wegen Totschlags im Fall von Joachim K., ein Fall, auf den sich die beiden Männer vermutlich beziehen: Im Hochsommer 2020, kurz nach Sonnenaufgang, entdeckt eine Spaziergängerin im Inselteich im Clara-Zetkin-Park einen leblosen Körper. Noch am selben Tag wird der Leichnam obduziert, steht nach Angaben der Polizei fest, dass der 68-Jährige eines gewaltsamen Todes starb. Wenig später ist auch die Identität geklärt.

Zwei Jahre später suchen die Ermittler noch immer nach Zeugen, der Fall ist ungelöst. Sie fragen ausdrücklich nach Wahrnehmungen, "insbesondere zu 'Flaschensammlern'". In Internetforen wird gemunkelt, dass Joachim K. das Opfer von Sammler-Revierkämpfen gewesen sein könnte. Ob sich hinter diesen Spekulationen auch nur ein Fünkchen Wahrheit verbirgt, das ist auch im Dezember 2022 noch offen.

Eine besondere Gefährdung im Zusammenhang mit dem Flaschensammeln allgemein kann die Leipziger Polizei nicht ausmachen: Zwar gebe es Raubstraftaten, denen auch Flaschensammler zum Opfer fielen, aber auch andere Menschen würden beraubt, sagt eine Sprecherin.

Aus polizeilicher Sicht gibt im Zusammenhang mit Flaschensammlern keine besondere Gefährdung.

Sandra Freitag Polizeidirektion Leipzig

In Leipzig besonders viele Sammler

Bekannt ist, dass im Clara-Zetkin-Park immer besonders viele Flaschen herumstehen, gerade nach den Feiern der warmen Sommernächte. Das ist Geld, das quasi auf der Straße liegt. Und so gibt es Pfandsammler, die gezielt losziehen: Mindestens etwa eine Million Menschen sammelt in Deutschland täglich Pfandflaschen, wie eine Studie der Initiative "Pfand gehört daneben" ergeben hat. Vor einem Jahr waren das noch circa 980.000.

In Leipzig wiederum gibt es offenbar besonders viele Sammler - berichtet die Projektleiterin der Plattform "Pfandgeben", wo sich Pfandgeber und Pfandnehmer telefonisch zur Flaschenübernahme verabreden können: "Gerade in Leipzig ist die Zahl der registrierten Sammelnden im Vergleich zu vielen Städten mit einigen Hundert überdurchschnittlich hoch", sagt Kern. Es handele sich zum Beispiel um Sozialhilfeempfangende, Arbeitslose oder Rentnerinnen und Rentner, die auf eine Mehreinnahme angewiesen sind.

Normalerweise müsste ich es nicht machen, wenn ich die mir zustehenden Renten bekäme, aber die bekomme ich nicht.

Matthias L. Flaschensammler

Die Tätigkeit des Flaschensammelns hat sogar Eingang in den Suchtbericht 2021 der Stadt Leipzig gefunden. Warum, weiß Lutz Wiederanders. Er arbeitet bei "Streetwork Mitte" und kennt die Nöte der Betroffenen. Jeder, der Stoff brauche, sei auf Dinge angewiesen, die er zu Geld machen könne. Pfandsammeln sei da besser als Beschaffungskriminalität. Für Menschen mit einer Suchtproblematik sei es ein Nebenerwerb, allerdings nur für jene, die noch aktiv seien, die dafür noch Willen und Kraft hätten.

Wie viel verdienen die Sammler?

  • 2021 lag der Durchschnittsverdienst von etwas mehr als jedem zweiten Sammler zwischen null bis vier Euro.
  • Im Winter verdienen knapp zwei Drittel der Sammler 49 Euro im Durchschnitt pro Monat (2022).
  • 62 Prozent haben einen Job und sammeln trotzdem.
  • 46 Prozent haben 2022 gestiegene Lebenshaltungskosten als einen Grund für das Pfandsammeln angegeben.


Quelle: "Pfand gehört daneben"-Studie 2021 und 2022

Viele Ältere auf der Suche

Matthias L.* ist nicht suchtkrank. Der schmächtige ältere Mann schleppt in einer dieser warmen November-Nächte in Höhe der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig drei schwere Taschen zur Tram-Haltestelle. Er braucht das Geld. Er ist nach eigenen Angaben jeden Abend zwei bis drei Stunden draußen. Sein Minimum sind fünf Euro Zuverdienst täglich. "Das kriege ich hin, ich bin geübt!", sagt er. "Um die Forderungen zu erfüllen, die von allen Seiten gestellt werden." Auch Anwaltskosten nach einer Scheidung hat er. "Normalerweise müsste ich es nicht machen, wenn ich die mir zustehenden Renten bekäme, aber die bekomme ich nicht."

Matthias L. ist ein Ost-Rentner. Bei der Wende sind viele Zusatz-Rentenansprüche aus der DDR nicht berücksichtigt worden. Erst vor kurzem wurde für einen Teil der Betroffenen eine Härtefallfonds-Lösung gefunden. Laut Bundessozialministerium sind bis zu 70.000 Männer und Frauen betroffen, 30 Prozent davon in Sachsen – umstritten nach wie vor: 90.000 von 500.000 betroffenen Ostrentnern gehen damit nach Angaben des Runden Tisches Rentengerechtigkeit leer aus. An gewährten Rentenansprüchen seien zudem bislang 40 Milliarden Euro vorenthalten worden.

Warum Matthias L. zu wenig Rente bekommt, lässt er offen: Die Straßenbahn kommt. Hastig schnappt er sich seine Taschen, taucht ins helle Neonlicht der Bahn und verschwindet in der Stadt.

*Namen von der Redaktion geändert

MDR

Saftpfand 5 min
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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL - Das Nachrichtenradio | 17. November 2022 | 06:47 Uhr

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