Inklusives Straßenfest Dresden Sie hören Musik gern, wenn sie laut ist

18. Mai 2023, 21:50 Uhr

Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen leben oft in Wohnheimen und haben wenig Chancen, Live-Musik zu erleben. Doch da gibt es das inklusive Dixieland-Straßenfest in Dresden-Leuben. Über 2.000 Menschen aus Wohngruppen in ganz Sachsen reisen mit ihren Betreuern an, um richtig abzutanzen.

Bianca zieht ihren Freund Sven hinter sich her. Hinein in das Getümmel. Hin zur Musik. Nah an die Jazzer, den Spirit aufsaugen, die Trompete im Bauch fühlen. "Uns gefällt es total gut hier", erklärt Sven. "Die Musik ist einfach toll!" Doch auch die Souvenirstände, die Gastronomie, Sven schwärmt und Bianca strahlt ihn an dabei. Ihre Freude sprüht und mit ihr die Euphorie. Mitten im Gespräch reist sich Bianca los, stürmt nach vorn, begrüßt Freunde. Ein perfekter Tag. Es spielen: Die "Oldtime Memory Jazzband", die "Rivertown Dixies" und "Micha Winklers Hot Jazz Band".

Bianca und Sven stechen aus der normativen Masse

Bei einem herkömmlichen Konzert würden andere Gäste Bianca und Sven vielleicht seltsam ansehen, sie mustern, sich wundern, vielleicht sogar tuscheln. Denn Bianca und Sven stechen aus der normativen Masse. Sie sind geistig beeinträchtigt. Sie reden etwas anders, benutzen einfache Sätze und sehen etwas anders aus. Doch sie hören und spüren die Musik und die Kraft, die von ihr ausgeht. Sie wippen und sie tanzen. Sie sprechen begeistert in das Mikrofon und drängen zur Bühne.

Menschen aus Wohngruppen in ganz Sachsen

Mit Bianca und Sven sind 2.000 Menschen mit Beeinträchtigungen aus ganz Sachsen angereist. Die meisten von ihnen leben mit Betreuung in Wohngruppen – ähnlich wie Bianca und Sven, die aus der Nähe von Döbeln stammen. Wochen vorher charterten die Wohnheim-Organisatoren Busse, um die Bewohner zum Dixieland-Konzert nach Dresden zu bringen. "Das Fest ist ein Höhepunkt für uns alle", erklärt Gabi Kowalzik, Sozialarbeiterin in der DRK-Werkstatt für Menschen mit Behinderung Meißen.

Inklusive Feiern mit den Nachbarn

"Es werden gute Schritte gelebt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen keine Außenseiter mehr sein müssen. Das beginnt schon mit der Frühförderung und reicht bis zu inklusiven Festen", erklärt Carolin Hentschel, Sprecherin der Cultus gGmbH, die Trägerin der gastgebenden Wohnstätte in Altleuben ist. Das erste Dixieland-Konzert in Leuben habe es bereits 1998 gegeben. Früher hätten die Bewohner direkt auf dem Gelände des Wohnheims sowie der Werkstätten gefeiert. Doch dann hätte man sich entschlossen, nach außen auf die Straße zu gehen und Inklusion zu leben. "Plötzlich war klar: Wir laden die Nachbarn ein", erklärt Hentschel weiter. "Das war ein voller Erfolg. Die Nachbarn lieben das Fest schon seit vielen Jahren."

Über 200 Menschen leben in der Wohnstätte Leuben

Die Cultus gGmbH betreibt in dem Dresdner Stadtteil Altleuben eine Wohneinrichtung, Werkstätten und auch eine Pflegeeinrichtung für Menschen mit Behinderung. Insgesamt leben über 200 Menschen in der Wohnstätte – 166 im Wohnheim sowie 92 in der Altenpflegeeinrichtung. "Viele Bewohner sind schon seit zehn bis 20 Jahren hier", erklärt Hentschel. "Auch hier erleben wir wie im Rest der Gesellschaft, dass die Menschen immer älter werden. 60 Plus sind längst keine Seltenheit mehr." Deswegen gebe es auf dem Gelände jetzt auch eine Altenpflegeeinrichtung. "Die Männer und Frauen brauchen ja auch weiter besondere Betreuung."

Jung und Alt richten Fest mit aus

Sowohl alte als auch junge Bewohner des Campus Leuben sind laut Hentschel in die Organisation des Dixieland-Festes eingebunden. "Wir sind in unserer Werkstatt-Arbeit stark auf Dienstleistungen ausgerichtet. Unsere Bewohner arbeiten in der Gastronomie, im Garten und in der Wäscherei", erklärt Hentschel. Der "Luby-Service" biete seinen kulinarischen Service auch im Alltag im Kulturkraftwerk für die Staatsoperette und das TJG. "Besonders die Gastronomen sind heute hier gefragt, doch alle helfen, wie sie können." In der Tat: Während Carolin Hentschel das Konzept erläutert, kommen Bewohner vorbei, die an den Gastro-Ständen arbeiten, Ordnungskräfte, Gärtner. Alle sind eingebunden. Viele kennen sich. Jeder scheint an seinem Platz genau richtig zu sein.

Im Bann des Dixieland

Während die nächsten Journalisten die Aufmerksamkeit der Sprecherin einfordern, zieht Erik mit seinem Kumpel des Weges und drängt zur Bühne. "Dixieland gefällt uns sehr gut, es ist toll hier", erklärt der Bewohner des Haus "Im Wiesengrund" der Lebenshilfe Meißen. "Ich bin das erste Mal hier, ein klasse Konzert, wir sind extra aus Meißen mit dem Bus angereist."

Weiter kommt er nicht, schon hakt sich sein Kumpel bei ihm ein, will auch vor die Kamera. "Die Gabi müsst ihr auch noch fragen", ruft er. "Die Gabi." Schon springt er wieder aus dem Bild und holt die Betreuerin, die Bezugsperson der Gruppe und die gute Seele. "Das ist ein Highlight. Wir erleben Zusammenhalt, haben Freude und viel, viel Spaß. Wir arbeiten nicht nur, wir machen auch etwas gemeinsam – und das nach Feierabend", erklärt Sozialarbeiterin Gabi und wird von euphorischen Bewohnern bestürmt.

Das ist ein Highlight. Wir erleben Zusammenhalt, haben Freude und viel, viel Spaß.

Gabi Kowalzik Sozialarbeiterin in der DRK-Werkstatt für Menschen mit Behinderung Meißen

Ausgelassen vor der Bühne

Direkt vor der Bühne tanzt Christin aus Hohndorf ausgelassen von links nach rechts und zurück über den Platz. Mirko tänzelt um sie herum. "Wir mögen Musik. Es ist sehr schön", erklärt er. In kürzester Zeit umringen weitere Konzert-Gäste die Journalisten, jeder möchte zuerst reden. Alle wippen mit ihren Körpern. Betreuerin Stefanie Götting drängt sich zwischen ihre Schützlinge. "Wir wollen unseren Bewohnern mal etwas anderes bieten", erklärt sie. "Auch sie genießen die Abwechslung zum Alltag." Alle nicken, die Trompete zieht die Töne weiter nach oben. Der Höhepunkt naht. Foto gefällig? Natürlich! In nur 30 Sekunden stehen alle da. Ausgelassen, freudig. Mitten auf einem Live-Konzert.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 16. Mai 2023 | 19:00 Uhr

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